Wir dokumentieren eine Zusammenfassung einer Berliner Veranstaltung mit Thesen zu anti patriarchaler Antifaarbeit

Eine gut besuchte Veranstaltung zum „Antifa-Ost“-Verfahren fand in Berlin am 10. Februar im Club about:blank am Ostkreuz statt. Mehr als 250 Leute drängelten sich, um zu hören, wie das Verfahren mit den über 80 Prozesstagen am Dresdener Oberlandesgericht bisher gelaufen ist und welche Schlüsse für die antifaschistische Praxis gezogen werden können. Auf dem Podium saßen Rote Hilfe Berlin, eine Vertreterin des Antifa-Ost-Solibündnisses und eine von der Antirepressionsplattform Berlin. Welche „Einsichten“ gibt es bisher aus dem Verfahren?

1. Nach dem „Totalschaden“ (EA-Dresden https://de.indymedia.org/node/261898) im Antifa-Ost-Verfahren sollten sich politisch Aktive folgende Fragen stellen: Mit wem mach ich was wo und wann? Welche politischen und sozialen Ansprüche stellen wir aneinander? An welchen Orten und in welchen Abständen werden diese Ansprüche verhandelt? Wie wird auf patriarchale Dynamiken und Dominanz reagiert?

2. Ein zweiter zentraler Aspekt ist der Umgang mit Repression: Denn offenbar fehlt es oft am Bewusstsein für drohende Konsequenzen. Staatliche Repression wird nicht als Teil des Kampfes, sondern als (persönlicher) Unfall wahrgenommen. Der Input der Roten Hilfe zu den juristischen Bedingungen für Strukturermittlungen konnte gut darstellen, dass wir diese kaum verhindern können – wohl aber einen Umgang finden müssen. Statt uns bei breit angelegten Ermittlungen immer weiter zu isolieren, sollten wir uns stärker vernetzen und ein noch größeres Netzwerk bilden, das nicht so leicht zu schwächen ist. Personen wie der Verräter und Vergewaltiger Domhöver können bestenfalls schneller erkannt werden, auch wenn das direkte Umfeld vor allen Warnzeichen Augen und Ohren verschließt.

3. In der Organisierungsfrage besteht auch die eigentliche Denkaufgabe des Abends: Wie klandestin müssen wir uns organisieren, um uns vor staatlichen Zugriffen oder Verrätern wie Johannes Domhöver zu schützen und wie offen und weit verzweigt müssen wir gleichzeitig sein, um gemeinsame Standards zu etabilieren, Vertrauen zueinander zu haben und Verantwortung füreinander übernehmen zu können, um beispielsweise problematisches Verhalten diskutierbar zu machen und Konsequenzen ziehen zu können?

Unterfüttert wurde das mit einer kurzen Broschüre „10 Thesen zu Verrat & Patriarchat & militanter Gewalt als politischem Mittel“, die sich mit Organisierung, antisexistischer Haltung und Risikobewußtsein beschäftigt. Die Thesen bilden Diskussionen ab, die unter Berliner Gruppen in den letzten Monaten gelaufen sind (siehe unten).

Wir wollen kurz einige Inhalte aus der Veranstaltung hier schriftlich festgehalten.

Zuerst wurden die Fakten zum Verfahren in Sachsen dargestellt: Vorgeworfene Taten, wer sind die angegriffenen Neonazis usw. Interessant waren hier vor allem die Beweisketten der „Soko Linx“ des LKA Sachsen, die im Auftrag der Bundesanwaltschaft eine kriminelle Vereinigung konstruieren und konkrete Taten zuordnen sollte. Also wie versucht wurde den Zusammenhang zwischen den Angeklagten und den Überfällen auf die Nazis herzustellen. Da gibt es DNA-Spuren in Tatortnähe, Blitzerfotos, Überwachungskameras in Kombination mit einer Funkzellenauswertung, eigentlich gelöschte Fotos auf USB-Sticks usw. Hinzu kommen Zeug*innenenaussagen, die bei zwei Angriffen eine Frauenstimme gehört haben wollen, aber auch mitgehörte Gespräche aus einem Auto, wo viel hineininterpretiert wurde. Im Gerichtsverfahren geht es um diese Indizien und um die Bemühungen, diese z.B. durch Alibis der Beschuldigten, zu zerstreuen. Die Beweislage ist nicht grade erdrückend, aber das ist aus Sicht der Strafverfolgung auch nicht zwingend, da es nicht um die Einzeltaten geht, sondern um die Straftat der Vereinigung zu dem Zweck Nazis zu vermöbeln.

Um das nachzuvollziehen, folgte eine Einordnung des Paragraphen 129 Strafgesetzbuch. Die Anzahl und der Umfang der Verfahren wegen Bildung kriminieller Vereinigungen haben nach der Gesetzesverschärfung (die Anforderungen daran was als Vereinigung zählt, sind 2017 gesunken) gegen linke Gruppen gefühlt zugenommen. Das Verfahren ist enorm in die Länge gezogen. Nun scheint zum ersten Mal wohl auch eine Verurteilung gegen Antifas mit diesem Paragrafen möglich.
Es reicht mittlerweile, Beweise dafür zu finden, dass sich die angeblichen Mitglieder kennen (z.B. öfter am gleichen Ort sind), einen gemeinsamen Willen haben bzw. ein abstraktes Verständnis davon haben, was gemeinsam zu erreichen ist. Es ist dann auch unerheblich, ob und wer genau an strafbaren Handlungen beteiligt war, oder behilflich war, oder ob überhaupt was passiert ist oder alles in der Planung steckengeblieben ist. Entscheidend ist eher, dass man sich zu dem Zweck, Straftaten zu begehen zusammengeschlossen hat. Mit diesen geringen Anforderungen können sehr viele Menschen in den „Sog des Verfahrens“ geraten.
Der Paragraf ist zudem variabel anwendbar: Die Ermittlungen können jederzeit starten. Es reicht eine Vermutung, dass es eine Vereinigung gibt und die kann dann, auch ohne begangene Straftaten, mit potentiellen Mitgliedern (begründet z.B. durch Kennverhältnisse) gefüllt werden. Das kann alles aus Verfolgungssicht von „außen“ definiert oder in Indizien hineininterpretiert werden ohne je einen nachweisbaren Innenblick (z.B. durch konkrete Beweismittel) zu bekommen. Je nachdem wie hoch die Gefahr eingeschätzt wird, werden Ressourcen mobilisiert, um diese Vereinigung zu belegen. Rechtlich möglich ist viel: Observationen, Innenraumüberwachung usw. von denen auch immer Dritte betroffen sein können. Letzteres schafft auch wieder die Möglichkeit bisher Unbehelligte in die Vereinigung mitreinzuziehen. Aufgrund der Höhe der Strafandrohung (5 Jahre) und der potentiell bei Vereinigungen immer konstruierbaren Verdunkelungsgefahr (Untertauchen, Beweise vernichten, Absprachen treffen) kann U-Haft viel leichter begründet werden als bei konkreteren Straftaten.
Antirepressionsarbeit für solche Fälle kann auch schon als Unterstützung der Vereinigung gewertet werden und so geraten immer mehr Leute in die Ermittlungen. Das Hauptziel dahinter ist tatsächlich den Datenbestand der Sicherheitsbehörden zu vergrößern, also konkret die Strukturen zu ermitteln, unabhängig davon, ob es immer auch zur Anklage kommt. Beispiele dafür finden sich zahlreich in der Vergangenheit (verwiesen wurde hier auf die RH Broschüre https://www.rote-hilfe.de/literaturvertrieb/bewegungen-und-repression/de…). Laut EU sollte mit Organisationsdelikten eigentlich die sogenannte organisierte Kriminalität verfolgt werden. Deutschland lässt es sich jedoch nicht nehmen, auch nach Umstrukturierung der Straftatbestände, diese vor allem zur Verfolgung von politischen Vereinigungen zu nutzen, indem der Vereinigungsbegriff für diese anwendbar gehalten wurde und für die vermeintlich bezweckten Straftaten sogar solche mit Höchstmaß von zwei Jahren Strafandrohung, also weniger als beim Organisationsdelikt selbst, ausreichen.

Es bleibt für uns: Gegen die Verfahren können wir uns nicht wehren, außer mit den uns bekannten Mitteln – also immer auch davon ausgehen, dass man selbst betroffen sein könnte, Aussageverweigerung, keine Spekulationen, politisch tragfähige Zusammenhänge schaffen, persönliche Belastbarkeiten für Repression auch schon in der Aktionsplanung mitdenken. Auf diese Weise sollten Betroffene aus ihrem Umfeld Stärke gewinnen, und gerade nicht isoliert werden.
Gleichzeitig sollten alle Mittel der Verteidigung schon im Ermittlungsverfahren angewandt werden, da es sich ja bei den Ausforschung um das eigentliche Ziel handelt. Der Schaden ist noch vor dem Gerichtsverfahren angerichtet, wenn soziale und politische Räume durch Reperssionsangst, Misstrauen usw. zerstört werden. Deshalb geht es auch darum, diese Räume aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. Also Betroffenenarbeit machen, Prozessbeobachtung organisieren, Haftbedingungen skandalisieren, soziale Beziehungen untereinander stärken und natürlich generell mit der Politik weitermachen.

Was sind die Besonderheiten des AntifaOst-Verfahrens? Eine ist, wie die Bundesanwaltschaft das Verfahren an sich gezogen hat und durch die verschiedenen Verknüpfungen der Taten und Beschuldigten für eine verstärkte Vernetzung der unterschiedlichen Landeskriminialämter zum Phänomenbereich aktivistische Antifas gesorgt hat. Das gab es bisher so nicht. Auch dass Ermittler miteinbezogen wurden, die selbst Teil rechter Strukturen sind, wie ein MEK-Beamter, der bei Nordkreuz involviert war, oder die Tatsache, dass das rechte Magazin Compact vom LKA Sachsen mit Ermittlungsdetails versorgt wird.
Eine Besonderheit ist auch das große Umfeld, das in Mitleidenschaft gezogen wird. Alles was irgendwie Connwitz, Fußball, Graffiti, Antifa ist, reicht aus, um in den Fokus zu geraten.
Eine besondere Absurdität der deutschen Justiz ist, dass aktuell zwei der angegriffenen Neonazis selbst seit April 2022 wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung in Haft sitzen, weil sie im Antifa-Ost-Verfahren ausführlich mit den Bullen kooperiert und damit auch Infos preisgegeben haben, die sie selbst in den Knast brachten.
Das eigentlich prägnante an dem Antifa-Ost-Verfahren ist aber der Kronzeuge, der wegen seiner Beteiligung als Scout beim Tatkomplex Eisenach II Ende Februar in Meinigen zu Bewährung und einer Geldstrafe verurteilt wurde. Seine Aussage vor dem OLG Dresden hat ein bisschen Licht ins Dunkel bei diesem Tatkomplex gebracht. Neben weiteren Namen von mutmaßlich militanten Antifas hat er auch Konkreteres zu dem Angriff auf das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig geliefert. Der VS hatte ihn angesprochen und er hat schnell freiwillig eingewilligt auszusagen. Nach Gesprächen in der Schweiz, hat ihn die Soko Linx vernommen. Außerdem hat er einen Monat lang beim BKA (u.a. wegen eines Angriffs auf das Bundesverwaltungsfericht in Leipzig) ausgesagt. Neben den Aussagen im aktuellen Verfahren hat er mit dem LKA Sachsen-Anhalt (wegen einem Angriff in Dessau-Roßlau) und dem LKA NRW (wegen dem Angriff auf den Dortmunder ThorSteinar-Laden) geredet. Er wird mit 1500 Euro pro Monat entlohnt und hat keine rechtlichen Zusagen für den Zeugenschutz bekommen. Entsprechend erpressbar ist er weiterhin mehr und immer mehr Aussagen zu machen.

Zu den Problemen im Solibündnis AntifaOst wurde auf die Unterschiedlichkeit der Beschuldigten, deren Umfelder und (un)politische Traditionen hingewiesen. Diese Diversität hat zu Hierarchisierung u.a. von Soliaktionen (deshalb passiert auch so wenig) geführt, aber auch zur mangelhaften Aufarbeitung der Genese des Verrats, oder wie Domhöver überhaupt in die Strukturen gelangt ist usw.

Daraus kann nur gelernt werden. Nach allem was wir wissen, begann das Drama schon bei den Aktionen selbst und führt sich in der Soliarbeit fort. Aufmerksamkeit für Hierarchien, gute Vor- und Nachbreitung, Fehleranalyse, feministische Awareness und solidarische Interventionen über Bezugsgruppen hinweg, wären angebracht. Das ist leichter gesagt, als umgesetzt, denn aktuell herrscht Misstrauen untereinander gemeinsam politisch, strategisch und aktionistisch sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Gleichzeitig gibt es keinen Grund jetzt stillzuhalten. Stattdessen heißt es jetzt an die Arbeit zu gehen.

Kommt alle zum Tag-X nach Leipzig (Vermutlich Ende März). Der Samstag nach der Urteilsverkündung im Antifa-Ost-Verfahren. Es soll einen anti-patriarchalen Block geben. Für Berlin ist dafür noch eine Vorbreitungsversammlung geplant.<p>

Hier nun aber die „Thesen zu Verrat & Patriarchat & militanter Gewalt als politischem Mittel“, die auf der Veranstaltung verteilt wurden:

Es wurde schon Einiges gesagt und geschrieben zum doppelten Verrat von Domhöver im Zuge des Antifa-Ost-Verfahrens. Wir schätzen diese Aufarbeitung, wollen aber hier nicht stehen bleiben. Vielmehr wollen wir den Anlass nutzen und einige allgemeine Thesen formulieren, um die antifaschistische Praxis, die Gewalt als politisches Mittel im Zuge geplanter Aktionen einsetzt, besser und sicherer zu machen.
Denn ob wir wollen oder nicht: Das Verfahren in Dresden richtet sich gegen alle militant und autonom agierenden Antifas. Selbst wenn wir nicht in die Strukturermittlungen einbezogen werden, so doch zumindest in die Debatte. Unsere eigene Praxis oder solidarische Haltung zu einer gewaltvollen Praxis werden in Frage gestellt. Wir bekennen uns zu subjektbezogener Gewalt als legitimes Mittel des antifaschistischen Kampfes. Wir stehen hinter der Praxis unserer Genoss*innen im Antifa-Ost-Verfahren und weiteren Kämpfen. Deshalb begleiten wir unsere Genoss*innen auch in solidarischer Verbundenheit durch die auf manche Aktionen folgende Repression. Gerade aufgrund dieser Verbundenheit halten wir es jedoch auch für legitim und nötig gemeinsame Standards festzulegen. Wer subjektbezogene Gewalt ausübt, trägt die Verantwortung auch dafür.
Der Fall Domhöver eignet sich gut zur Diskussion, da patriarchales Verhalten und Militanzvorstellungen sich hier sehr ungefiltert offenbaren. Das heißt jedoch nicht, dass dies der einzige Ausdruck ist. Auch die Thesen gehen daher über den Fall hinaus und sollen nicht wortwörtlich, sondern im Sinne eines Anstoßes verstanden werden.

1. Eine revolutionäre Haltung ist immer auch eine anti-patriarchale Haltung

Wir kämpfen gemeinsam für eine befreite Gesellschaft. Unsere antifaschistische und auch antikapitalistische Haltung eint uns und ist für uns selbstverständlich. Die unfreie oder ungerechte Ordnung im Kapitalismus beruht auf Unterdrückungs- und Herrschaftsmechanismen, wie patriarchalen sowie kolonialen und rassistischen Strukturen. Vor dem Hintergrund, dass das immer mal wieder negiert wird sollten wir uns gegenseitig immer mal wieder daran erinnern: Auch das Patriarchat ist ein Unterdrückungs- und Herrschaftsmechanismus. Menschen werden entlang einer binären Geschlechtervorstellung sortiert und ihnen bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften zu- oder abgeschrieben. Das Ergebnis ist eine Geschlechterhierarchie, mit entsprechenden (mörderischen) Folgen für die Betroffenen. Dies gilt es zu überwinden, um Unfreiheit abzuschaffen. Zwar sind patriarchale und kapitalistische Strukturen in unserer Gesellschaft eng miteinander verbunden, dennoch wird eine feministische Perspektive oft nicht mitgedacht, wenn es um die Überwindung der Verhältnisse geht. Auch wenn damit nicht alle Probleme gelöst sind, gilt daher: eine revolutionäre Haltung bedeutet stets auch eine feministische Haltung. In der antifaschistischen Organisierung und Praxis muss sich das aber auch wiederfinden, wenn wir nicht nur Symptomebekämpfung betreiben wollen.

2. Sexualisierte Gewalt ist Verrat und Sabotage

Übergriffiges und sexistisches Verhalten ist ein Verrat an unseren politischen Idealen. Noch problematischer wird es allerdings, wenn auf Fehler und Kritik keine Reaktion folgt. Das politisch falsche, unverantwortliche und unzuverlässige Verhalten wird so weitergeführt und normalisiert. Selbst wenn sie (noch) keine Verräter im Sinne der Repressionsbehörden sind oder als »Täter« nach vielen Abwägungen geoutet wurden, sind solche Personen daher in ihrem sexistischen und gewalttätigen Handeln bereits so destruktiv, als wären sie es. Sie sorgen für Misstrauen und zum Rausdrängen von Betroffenen, meist FLINTA*, aus unseren Kontexten. Das ist Sabotage an der ganzen Bewegung.

3. Perspektiven durch (gemeinschaft­liche) Verantwortung

Sexualisierte Gewalt und übergriffiges Verhalten kann und muss kollektiv bearbeitet und eingehegt werden (Community Accountability). Gemeinschaftliche Verantwortung bedeutet, eine solidarische Haltung mit den Betroffenen einzunehmen. Ganz in dem Sinne: »Getroffen hat es Eine, betroffen sind wir Alle.« Die Beschäftigung mit dem Täter darf nicht zulasten der Betroffenen gehen. Praktisch heißt das beispielsweise, die Betroffenen aktiv und wiederholt anzusprechen, zu unterstützen, zu informieren und weiter zu Aktionen mitzunehmen. Denn die Betroffenen haben sich die Betroffenheit nicht ausgesucht. Andersherum aber ist klar: »Niemand muss Täter sein.« Die Verantwortung für die Tat – und damit der erste Schritt zur Besserung – liegt bei den Tätern. Das gilt auch wenn patriarchales Verhalten in gesellschaftlichen Verhältnissen begründet ist.
Wichtig ist, dass wer Scheiße baut, das auch eingesteht und daran arbeitet. Sowohl Menschen, als auch die Strukturen, in denen sie leben, sind veränderbar. Zudem ist Täter nicht gleich Täter; Übergriffe und generell patriarchale Verhaltensweisen umfassen ein weites Spektrum. Niemand lässt sich einfach in »gut« und »böse« einteilen. Es gilt, die Graustufen zu erkennen. Ganz praktisch aber gilt in jedem Fall: Ein »Weiter so« ist nicht möglich. Je nach Problem können Aufgaben und Verantwortung bewusst umverteilt werden, machtkritische Funktionen vermieden und vorerst von FLINTA* besetzt, kollektive Verantwortungsstrukturen geschaffen, bestimmte Aktionsformen prinzipiell oder nur wenige ausgeschlossen und cis männliche Personen an unsichtbare Reproduktionsaufgaben herangeführt werden. Leider müssen wir uns aber auch eingestehen, dass mit Personen, die die Bearbeitung verweigern, gar kein vertrauensvolles Miteinander möglich ist. Dann braucht es auch einfach Personen, die »Stopp« sagen.

4. Organisierung als Schlüssel

Organisierung kann sexualisierte Gewalt innerhalb der Szene abwenden und bearbeitbar machen. Strukturelle und aber auch persönliche Konsequenzen lassen sich nur über Organisierung genügend diskutieren und durchsetzen. Nur über unsere Netzwerke und Beziehungen können gemeinsame Standards sichergestellt und im täglichen Umgang gepflegt werden. Die daraus gezogenen Verbindlichkeiten mindern das Risiko für Verrat und anderes strukturschwächendes Verhalten. Daraus folgt der für einige schmerzliche Umkehrschluss: Wer nicht verbindlich eingebunden ist und sich nicht an der Entwicklung und Plfege von Standards beteiligt, muss es schwer haben politisch aktiv zu sein.
Ein Problem dabei ist, dass gewisse Aktionsformen verbindliche, nachvollziehbare Organisierung auszuschließen scheinen. Die derzeitigen §129er-Verfahren zeigen uns, wie verletzlich wir durch bloße (auch staatlich konstruierte) Kenn-Verhältnisse sind. Durch Organisierung werden wir jedoch gleichzeitig sicherer. In wiederkehrend zusammenkommenden Bezugsgruppen mit politischen Ansprüchen aneinander kann problematisches Verhalten frühzeitig entdeckt und – eben kollektiv – bearbeitet werden. Organisierung als Schlüssel zur Verhinderung von patriarchaler Gewalt und auch Verrat innerhalb der Szene setzt insofern wiederkehrende Gespräche in Bezugsgruppen und Vergewisserungen über einander voraus. Unser politischer Grundkonsens muss in politisch aktiven Zusammenhängen nicht nur implizit vorausgesetzt, sondern explizit hergestellt werden. Dazu gehört auch, Kritik an Genoss*innen ernst zu nehmen.

5. Reflexionsfähige Zusammenhänge

Der minimale Organisierungsgrad ist demnach die Bezugsgruppe mit wiederkehrenden Gesprächen. Darüber hinaus, braucht es reflexionsfähige Zusammenhänge, die im permanenten solidarischen Austausch zueinander stehen. Damit meinen wir ein Geflecht von Vertrauensketten und nicht bloßen Kenn-Verhältnissen. Dies bedeutet beispielsweise die gemeinsame Vor- und Nachbereitung von Aktionen. Solche (Delegierten-)Treffen ermöglichen tiefergreifenden Austausch zwischen den einzelnen (Bezugs-)Gruppen. Eine Organisierung ohne Zentrum, bzw. mit vielen Zentren und Schlüsselpunkten, die machtkritisch reflektiert werden. So haben wir ein weit gespanntes Netzwerk, das gegen Verrat hilft oder zumindest die Fallhöhe bei Verrat verringert. Vertraute reflexionsfähige Zusammenhänge steigern zudem die Chancen für einen verantwortungsvollen Umgang wenn es doch zu Übergriffen kommt.

6. Keine Praxis ohne Haltung

Politische Praxis setzt immer auch politische Reflexion der Ziele und Mittel voraus. Zwar wissen wir, dass auch persönliche Vorlieben unsere jeweiligen Politikstile prägen, doch gewisse Aktionsformen bergen stärkere Potenziale, patriarchale Prägungen ausleben zu können. Organisierte Politstrukturen dienen als Ort, wo wir über Affekte gemeinsam reflektieren können. Es kann beispielsweise unter den zur Verfügung stehenden Mitteln – wechselnde, jeweils passende – ausgewählt werden, um bestimmte Affekte nicht zu bedienen ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. Zudem kann sichergestellt werden, dass Personen aus politischer Überzeugung dabei sind und nicht ausschließlich, weil sie eine bestimmte Aktionsform nice finden. Denn wenn eigenes Geltungsbedürfnis oder persönliche Befriedigung im Vordergrund stehen, besteht immer das Risiko, dass im Repressionsfall das eigene Davonkommen gegenüber den kollektiven Erwartungen obsiegt. Ausdruck findet solches Verhalten zudem in Prahlerei über gewisse Fähigkeiten oder Aktionen auf der einen Seite und Bewunderung für besimmte Formen der Praxis auf der anderen.

7. Bewusstsein für Risiken und Konsequenzen

Bei unserem politischen Handeln gibt es keine 100%ige Sicherheit. Es ist klar, dass wir auch mal Fehler machen. Viele Risiken sind aber kalkulierbar und steuerbar. Dazu müssen wir diskutieren, wie unsere Aktionen gebaut sind. Zur Kaulkulation gehört auch die Abwägung, welche Ziele zu welchem Preis zu haben sind. Mit steigendem Risiko heißt es immer mehr, nicht unüberlegt loszumachen. Es gilt, Schwächen und Sorgen von Genoss*innen und Gefährt*innen zu kennen, um potenziellen staatlichen Erpressungsversuchen gemeinsam begegnen zu können. Die unterschiedlichen Auswirkungen von Repression auf die Beteiligten muss reflektiert werden. Das ist wichtig, denn leider gilt: Wer Konsequenzen nicht sieht, übernimmt auch keine Verantwortung, wenn diese eintreten. Mögliche Drohpotentiale der Repressionsbehörden müssen in eine gemeinsame Risikoabwägung einfließen.
Mit Täter*innen lassen sich keine Aktionen auf dieser Basis durchführen. Denn wie zuverlässig sind Personen, für die unsere Ideale so wenig zählen? Druckpunkte können nicht nur durch eigenes negatives Vorverhalten entstehen, sondern hängen auch von gesellschaftlicher Stellung und Privilegien ab. Das machen wir niemandem zum Vorwurf. Stattdessen erwarten wir, das alle ihren Teil beitragen. Diejenigen, die Risiken eingehen, schätzen wir für ihren Einsatz wert. Aber wir überhöhen sie auch nicht. Und wir erwarten, dass wer sich hohen Risiken aussetzt, sich auch der möglichen Konsequenzen bewusst und darauf vorbereitet ist. Knast darf nicht überraschen, weder die Betroffenen, noch deren Support. Gewisse Aktionsformen erfordern einen bewussten Umgang damit. Mit genügend Ressourcen und Rückhalt ist Knast keine Tragödie.

8. Patriarchaler Absolutheitsanspruch

Das Beiseitewischen möglicher Konsequenzen ist patriarchal erlernt. Während FLINTA* meist diejenigen sind, die Misserfolge auffangen und sich kümmern, ist bei cis Männern der Anspruch perfekt zu sein besonders ausgeprägt. Das Bedürfnis nach Kontrolle und Steuerung von Politik durch das Besetzen von Schlüsselpositionen und Bündelung von Information und Kommunikation gehört auch dazu. Tatsächlich stellen diese Mechanismen eher Blockaden dar.

Aus militarisitischen Männerbildern, die auch oft präsent sind wenn militant agiert wird, folgen Leistungs- und Erfolgsdruck sowie der Drang, sich durch- und über andere hinwegzusetzen. Handlungsdruck und Selbstüberschätzung führen jedoch zu oft zu persönlichem und letztlich kollektivem Versagen. Bestärkt wird dies dadurch, dass das Bedürfnis nach Wirkmächtigkeit bestimmte Aktionen befeuert, auch wenn die Grundlagen noch nicht gelegt sind und der eigene Zusammenhang noch nicht bereit ist. Wenn Scheitern in der eigenen Agenda grundsätzlich nicht vorkommt, steht mehr auf dem Spiel als eine misslungene Aktion. Es können Frust- und Schnellschüsse folgen. Gleichzeitig verhindert dann auch die Scham das Sprechen über Erlebtes und das Scheitern. Die Fehleranalyse bleibt unvollständig und mangelnde Kritikfähigkeit tut ihr übriges. Es gilt, im Streben nach Effektivität auch einmal zurückzutreten, Nähe und Zweifel zuzulassen und von einer noch so tollen Idee auch absehen zu können, um die jeweiligen politischen Ziele zu erreichen.

9. Wir brauchen keine Held*innen

Repression trifft Einzelne direkt und sicherlich am stärksten. Aber das Umfeld und die Bewegung als solche sind auch betroffen. Diese sind zum Teil auf Jahre damit beschäftigt, der Repression zu begegnen. Repression blockiert und verhindert also Politik an anderen Stellen. Dabei sollen unsere Aktionen doch eigentlich unseren Handlungspielraum vergrößern und den unserer Gegner*innen verkleinern. Daher muss Soliarbeit die individuelle und die kollektive Ebene von Repression berücksichtigen. Zu vermeiden ist Soliarbeit, die von der eigenen Praxis entkoppelte Held*innenbilder hervorruft. Durch den Fokus auf Held*innen wird die kollektive Ebene genommen: doch wir sind wer wir sind wegen unserer Strukturen und Netzwerke. Durch die Überbetonung subjektiver Leistungen und Opfer in der Soliarbeit, wird stattdessen eine selbstbezogene Art an Aktionen heranzugehen, bestärkt. Das spiegelt sich im Kokettieren mit eigenen Leistungen oder Repression, aber auch im militanten Auftreten oder plumpen Verbalradikalismus wieder. Das Stillschweigen über Angst vor körperlicher Unversehrtheit, Verlust bürgerlicher Rechte und Karrierechancen oder andere Sorgen, ist ebenso ein Bestandteil einer Held*innen-Erzählung. Probleme werden nicht bearbeitet – Erfolge überhöht. Beides geschieht subjektiv statt kollektiv. Deshalb brauchen wir weder bei Aktionen Held*innen, noch heldenhafte Prahlerei im Nachhinein noch Antirep-Arbeit, die Betroffene zu Held*innen stilisiert.

10. Gemeinsame Standards und politische Haltung

In unserem politischen Alltag leiten uns nicht die Regeln des bürgerlichen Rechts- und Strafsystems. Das bedeutet aber nicht, dass wir keine eigenen Regeln, Ansprüche und Haltung haben. Im Gegenteil! Wir streiten gemeinsam für eine bessere, gerechtere Welt. Aus unserem politischen Anspruch folgen politische Prinzipien der Solidarität sowie eine antikapitalistische, anti-patriarchale und antirassistische Haltung. Daraus ergeben sich wiederum gemeinsame Standards. Nur weil wir emanzipatorische Ziele anstreben, heißt das noch lange nicht, dass die Mittel auch automatisch emanzipatorisch sind. Gewalt ist keine schöne Sache. Sie dient uns in der gewaltvollen Welt als ein strategisches Mittel von vielen. Daher romantisieren wir Gewalt nicht, weil diese nach unserer politischen Haltung stets Gegengewalt gegen das System darstellt. Wer gegen gewisse Standards verstößt, kann nicht Teil einer Bewegung für eine gerechtere Welt sein.

Fazit

Die aktuelle Situation der autonomen Antifa-Bewegung erfordert eine bewusste Reflexion und gemeinsame Diskussion über den Stand der Dinge und Perspektiven für die Zukunft. Mit den vorstehenden Thesen möchten wir anregen mehr über den gesellschaftlichen und organisatorischen Rahmen nachzudenken, in dem das alles stattfinden kann. Für absolut grundlegend halten wir eine politische Organisierung und die wiederkehrenden Gesprächen zur Reflexion der gemeinsamen Praxis auch mit vielen anderen. An dieser Stelle treffen der Wunsch nach Klandestinität und die Notwendigkeit miteinander zu reden, aufeinander. Mit reflexionsfähigen Zusammenhängen und einer Organisierung ohne Zentrum, aber über Vertrauensketten, können ist diese Spannung aushaltbar. Schließlich hilft uns dieser Austausch auch dabei, Risiken gemeinschaftlich abzuwägen und gegebenenfalls gefährliche und verantwortungslose Personen aus gewissen Zusammenhängen herauszuhalten.

Das alles ist nichts Neues. Angsichts der derzeitigen Unruhe und Möglichkeiten für Veränderung wollen wir aber erneut zur Reflexion einladen. Durch die Thesen wollen wir informieren, Orientierung bieten und für einen feministischen Umgang unter Militanten werben. In diesem Sinne: Lasst uns über die Zusammenhänge von Patriarchat, Verrat und militanter Gewalt sprechen, damit es nicht noch einmal zu so einer Scheiße kommt und lasst uns versuchen, unsere Praxis anders zu machen.