Wir bedanken uns für diese Zusendung. Es handelt sich um einen längeren Text, der sich nach Redaktionsmeinung jedoch definitiv lohnt zu lesen!

Die Gruppen der radikalen Linken stehen unter dem Druck politisch Stellung zu beziehen. Und dieser Handlungsdruck führt meiner Ansicht nach dazu statt einer Debatte, in der sich aufeinander bezogen wird, und Widersprüche analysiert und argumentiert werden, sich gegenseitig zu agitieren. Die Suche nach Einheit oder Konsens wird durch floskelhafte Positionierung abgekürzt. So kann die Parole „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ ein Ausweichmanöver sein, um zum imperialen großrussischen Krieg keine Stellung beziehen zu müssen. Die Definition des ukrainischen Regimes als faschistoid wird schlagwortartig in den und ohne Begründung in den diskursiven Raum geworfen – wird damit indirekt Putins Kriegslegitimation der „Entnazifizierung“ zugestimmt? Die Einschätzungen der osteuropäischen Antikriegsbewegung und der osteuropäischen Linksopposition werden teils ignoriert, teils unkritisch übernommen. Nur anhand dieser wenigen Beispiele wird erkennbar, wie unmöglich es ist ohne eine materialistische und kritische Analyse der Weltlage, ohne Erkenntnisgewinn zu einer wirklichen unabhängigen Auffassung zu gelangen. Es ist ein Dilemma: jetzt einen Lesekreis zu bilden wäre absurd, gleichzeitig kommen radikale Linke aus meiner Sicht nicht darum herum ihre Diskussionen zu vertiefen und zu intensivieren.

„Gen. B.K. [Béla Kun] übt Kritik auf Grund von Zitaten aus Marx, die sich auf eine der jetzigen ganz unähnliche Situation beziehen, […] und umgeht vollkommen das Allerwichtigste. Er umgeht das, worin das innerste Wesen, die lebendige Seele des Marxismus besteht: die konkrete Analyse einer konkreten Situation.“

Lenin, LW 31


Manche meinen, der Ukraine-Krieg wäre nur ein weiterer Konflikt in einer Kette von Kriegen, die jetzige Flut an Bildern und der gepushte Informationstsunami würde die Wahrnehmung der anderen Kriege (in Kurdistan, Syrien, Jemen etc.) verhindern. So allgemein richtig die Feststellung ist, dass dieser Krieg vergleichbar und nicht der einzige ist, bleibt die Aussage konkret „tot und steril“: alle Katzen werden grau. Der jetzige Krieg ist kein Stellvertreterkrieg mehr, auch Deutschland ist mit der NATO schon längst Kriegspartei, ein „imperialistischer Weltkrieg“ mit Nuklearer Option ist in unmittelbarer Reichweite. Einzelne Beispiele von Konfrontationen zwischen den Weltmächten der letzten siebzig Jahre (Kubakrise 1962, Besetzung des Flughafens in Priština am Ende des Kosovokriegs 1999) sind schwer vergleichbar – hätte die USA 1962 tatsächlich eine Invasion auf Kuba begonnen (was die Hardliner vorschlugen), wäre der Konflikt dem Ukrainekrieg ähnlich, genau diese Eskalation wurde von beiden Seiten (UdSSR und USA) 1962 vermieden. In Priština diente die gescheiterte Flughafenbesetzung nur zur Stärkung der Verhandlungsposition Russlands als Schutzmacht Serbiens, und sollte nicht zu einer kriegerischen Eskalation führen. In Syrien versuchten USA und Russland jede Eskalation und Konfrontation trotz gleichzeitiger Truppenpräsenz zu vermeiden: die russischen Toten nach einem Luftschlag der US-Truppen in der Provinz Deir al-Sour am 7.2.2018 waren russische Söldner der „Gruppe Wagner“, die russische Regierung distanzierte sich offiziell von der irregulären „Privatarmee“.
Wenn der Ukrainekrieg in der Weltöffentlichkeit zur historischen Zeitenwende erklärt wird, dann ist es erforderlich die Gründe zu suchen: hat sich die „Balance of power“ („Gleichgewicht der Kräfte“) so verändert, dass eine militärische Eskalation nicht mehr ausgeschlossen wird, sondern zur realen Option wird? Am 25. Februar wurde die NATO Response Force durch den Supreme Allied Commander Europe Tod D. Wolters zum ersten Mal in ihrer Geschichte aktiviert. Noch ist der Ukrainekrieg aus NATO-Sicht ein Risikotransferkrieg, d.h. die Risiken an Opfern werden auf die ukrainische Armee und Miliztransferiert, und die russische Armee trägt die Kosten am Boden: diese Kalkulation geht jedoch in langfristiger Perspektive nicht auf: siegt Russland, dem die NATO-Staaten indirek tden Krieg erklärt haben, steht der Kriegsgegner direkt an den Grenzen des Baltikums und Polens. Die ukrainische Armee erhielt seit 2014 allein von der USA 2,5 Mrd. Dollar für Ausrüstung und Ausbildung, eine militärische Niederlage der Ukraine wäre eine der NATO, und würde daher das Verhältnis der imperialen Blöcke weiter unter Spannung setzen. Umgekehrt kann sich die russische Führung keine militärische Niederlage erlauben, entweder stimmt sie einem Verhandlungsfrieden ohne Gesichtsverlust zu (Zugang zum schwarzen Meer, die Annexion des Donezbeckens), oder sie sind gezwungen weiter zu eskalieren. Der Konflikt um die Ukraine ist für beide Seiten too big to fail – keine Seite kann sich ein Scheitern erlauben – für die NATO hätte eine Niederlage direkte Konsequenzen in Osteuropa, für Putins Regime könnte es möglicherweise den Sturz zur Folge haben.


Unterstützung der Selbstverteidigung der Ukraine?

„Es ist klar, daß nicht kritikloses Apologetentum, sondern nur eingehende nachdenkliche Kritik imstande ist, die Schätze an Erfahrungen und Lehren zu heben.“

Rosa Luxemburg, Die russischen Revolution


Mit Waffenlieferungen an linke Gruppen in der Ukraine, die eigene Selbstverteidigungseinheiten bilden wollen umgeht man die Frage des Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. Einerseits gibt es die menschliche Empathie mit den Überfallenen gegen die Brutalität des Aggressors, der direkte Reflex, sich mit den Angegriffenen zu solidarisieren. Andererseits jedoch die opportunistische Parteinahme für die Ukraine, die sich länger angebahnt hat, und den Anlass zwar gebraucht, aber auch jeden anderen genommen hätte, um aufzurüsten und Krieg führen zu können. 1991, als Frankfurter Linke für Luftabwehrraketen für Israel sammelten, das von Saddam Hussein mit Chemiewaffen bedroht wurde, ist die linke Debatte eine symbolische und nach innen gerichtet, die Grünen waren 1991 als Protagonisten der „Waffen für Israel“-Aufrufs noch keine Regierungspartei (real brauchte das hochgerüstete Israel damals keine militärische Unterstützung). Heute wird die Ukraine massiv von den NATO-Staaten ausgerüstet. Ist das von der Weltöffentlichkeit erzählte Bild von „David gegen Goliath“ real?
Russland hat ein der Ukraine überlegenes militärisches Potential, dass jedoch nicht komplett in diesem Krieg eingesetzt wird. Besonders deutlich wird die russische strategische Überlegenheit in der Dominanz des Luftraums und in der Fähigkeit mit mechanisierten Verbänden Offensiven zu führen. Die ukrainische Militärmacht ist auf Grund dieser offensiven Überlegenheit Russlands nicht zu Gegenoffensiven in der Lage, sondern handelt aus einer strategischen Defensive heraus, um die russischen Kräfte mit schnellen taktischen Operationen zu zermürben und abzunutzen.
Es spielen jedoch weitere Faktoren eine Rolle, die Moral und Motivation der Kombattantinnen, der Rückhalt in der Zivilbevölkerung, Geländekenntnis und Raumkontrolle. Probleme in der Logistik und Aufklärung (Führungsfehler der russischen Seite) kommen dazu. In der Theorie des Krieges reduziert sich der moralische Faktor vom ungerechten Angreifer und ungerechtfertigt Angegriffenen, zwischen David und Goliath zu einer Variablen in der rationalen Einschätzung der realen Stärke zwischen vielen anderen: numerische Kräfteverhältnisse, Planung und Strategie, Ressourcen und Versorgung, Zeit und Raum, Disziplin und Logistik und weitere. Ziel des russischen Angriffs war nach Ansicht vieler Analysen ein schneller Enthauptungsschlag des Kriegsgegners (Faktor Zeit) mit der Einnahme Kiews (Faktor Strategie), um damit eine schnelle Kapitulation der ukrainischen Streitkräfte (oder ihres Rückzugs in die Westukraine) zu erreichen. Dieser erste Angriffsplan ist 2 gescheitert, die russische Armee könnte nun versuchen ihrerseits die ukrainischen Kräfte durch Luftangriffe, Blockade der Versorgung mit Nahrung, Munitionsnachschub, Energie und Wasser zu zermürben und zur Kapitulation zwingen. Diese Abnutzungsstrategie würde einen langwierigen Erschöpfungskrieg bedeuten, mit vielen weiteren Opfern und Flüchtenden, Zerstörungen und materiellen und immateriellen Verlusten. Gleichzeitig würde das Anwachsen der Opfer und Zerstörungen die Opposition in Russland verstärken. Kiew ist nicht Grosny, die Ukraine ist kulturell und historisch mit Russland verbunden, Kiews Zerstörung würde als selbstverletzende Handlung empfunden. Die NATO-Staaten könnten bei einem langwierigen Krieg innenpolitisch unter Handlungsdruck kommen militärisch zu intervenieren – jede Intervention in den regionalen Konflikt z.B. gegen die russische Dominanz im ukrainischen Himmel (die NATO-Staaten sind im Vergleich der russischen Luftwaffe überlegen) könnte jedoch eine Konfliktdynamik auslösen, mit dem Potential den regionalen Krieg zum europäischen Krieg oder Weltkrieg auszuweiten: dann wäre aus dem ursprünglichen Auslöser ein Weltbrand geworden, der den Ursprungskonflikt selbst in den Hintergrund treten lässt (Wer erinnert sich noch, dass der Auslöser des ersten Weltkriegs der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien war?).
Im Kriegsverlauf kann sich die ursprüngliche Überlegenheit des Angreifers umkehren, aus vielen kleinen Vorteilen und Veränderungen kann ein großer werden. Kehrt sich dann auch die moralische Bewertung um, wenn aus dem Verteidiger der Angreifer wird? Israel wurde 1967 im Sechstagekrieg gegen Syrien, Jordanien und Ägypten „überraschend“ zum Sieger, der zur Gegenoffensive überging, Land eroberte, annektierte und besetzte. In der Kriegslogik entspricht dies dem Sinn des Kriegs, siegreich zu sein und die Machtverhältnisse zugunsten der eigenen Seite zu verändern – moralisch verlor Israel dadurch den Nimbus die Unschuld des Angegriffenen. Der Status des unschuldig Überfallenen in der Öffentlichkeit sammelt „die Nation“ hinter ihrer Führung. Der deutschen Reichsführung unter Bethmann-Hollweg war es 1914 unbedingt wichtig den eigenen Friedenswillen zu demonstrieren, und mit der Mobilisierung zu warten, bis Russland die Generalmobilmachung verkündet hat. Erstes Ziel war es die Neutralität Englands zu erreichen (was misslang, weil England die Kriegsplanungen des Deutschen Reichs durchschaute) und zweitens die Zustimmung der Sozialdemokratie zum „Verteidigungskrieg“ gegen den russischen Despotismus: nur wenn der provozierte Krieg als Selbstverteidigung empfunden würde, konnte dies gelingen. Dieses Ziel zur Verbesserung der eigenen Kriegsführung hatte die deutsche Reichsführung 1914 erreicht, kein Generalstreik störte den Aufmarsch zum 1.Weltkrieg.

Ein antifaschistischer Krieg?

„Es erhebt sich… das Blut gegen den formalen Verstand, die Rasse gegen das rationale Zweckstreben, die Ehre gegen den Profit, die Bindung gegen die >Freiheit< zubenannte Willkür, die organische Ganzheit gegen die individualistische Auflösung, Wehrhaftigkeit gegen bürgerliche Sekurität, Politik gegen den Primat der Wirtschaft, Staat gegen Gesellschaft, Volk gegen Einzelmensch und Masse”

Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung

Eine Unterstützung der Waffenhilfe für die Ukraine durch die Linke hat nach meiner Ansicht in erster Linie keine militärischen Gründe: die ukrainische Armee ist eine gut ausgerüstete und ausgebildete, offensichtlich gut vorbereitete Streitkraft, die von geheimdienstlicher Aufklärung der NATO und den modernsten Waffensystemen der automatisierten Kriegsführung seit 2014 profitiert – es sind eben keine Internationalen Brigaden und Waffenhilfen für eine militärisch unerfahrene und schlecht ausgerüstete und unterlegene Spanische Republik 1936, die händeringend versucht in Frankreich oder Großbritannien militärische Hilfe gegen einen faschistischen Militärputsch zu erhalten (um diese dann für einen hohen politischen Preis von der Sowjetunion zu bekommen). Dieser zum Beispiel in einem ND-Kommentar bemühte Vergleich mit der Spanischen Republik ist eine historisch falsche Analogie.
Ausschlaggebend für die Solidarisierung mit der Ukraine sind meiner Meinung nach moralisch-völkerrechtliche und historisch-politische Gründe: Moralisch- völkerrechtlich, weil Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und Invasion in ein Nachbarland getragen hat. Putin versucht die Invasion mit einem drohenden Genozid gegen russische Bewohner der Separatistengebiete und der Krim zu begründen, und damit, dass Russland von der Aufrüstung der Ukraine durch die NATO bedroht sei, und die Sicherheitsinteressen Russlands ignoriert und missachtet würden. Die ideologisch-politische Legitimation Putins für diesen Krieg bezieht sich auf einen nostalgisch vaterländischen Antifaschismus, verweist auf den Machtanspruch einer stalinistischen Nomenklatura (Einmarsch in Ungarn 1956, CSSR 1968 gegen den Prager Frühling, Kriegsrecht in Polen 1981- 1983), auf einen Anti-Liberalismus einer totalitären Staats- und Gesellschaftsauffassung, und einen nationalistischen Rückbezug auf ein christlich-orthodoxes Großrussland der Zarenzeit. In der Ukraine steht dem russischen imperialen, nationalistischen Narrativ das national- patriotische Narrativ mit seinen Grundelementen der Glorifizierung der OUN/UPA, des Stolzes auf eine unabhängige Ukraine, der Verdrängung und Umdeutung der sowjetischen Vergangenheit sowie der strikten Abgrenzung von Russland und dem dort dominierenden Geschichtskanon gegenüber, das eine breite Unterstützung in der ukrainischen Gesellschaft fand. Organisationen, die sich positiv auf kommunistische oder linke Ideologien beziehen, wurden verboten, sowjetische Denkmäler zerstört und von öffentlichen Plätzen entfernt sowie zahlreiche Ortsnamen geändert. Die staatlich verordnete Diskreditierung der Sowjetukraine ging mit der gesetzlichen Festlegung der «Verehrung der Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert» einher. Antisemiten und Kriegsverbrecher wie Bandera und Organisationen wie die OUN, die mit den Nazis kollaboriert haben, wurden offiziell zu Helden erklärt. Die Schablone eines antifaschistischen Krieges, gleichgültig von welcher Kriegspartei bemüht, verzerrt mehr die Wirklichkeit als das sie zum Erkenntnisgewinn beiträgt. Die an einzelnen Aspekten und Skills erzeugte Sympathie für eine der Seiten fließt mit in die gegenseitigen Kriegsbegründungen und Überzeugungen im Recht zu sein ein, ohne die Ursachen des Kriegs wirklich zu kennen.

Von der Perestroika zum zweiten kalten Krieg

Wer nicht ganz vom Geschrei des Augenblicks übertäubt ist, oder ein Interesse hat, das deutsche Volk zu übertäuben, muß einsehen, daß der Krieg von 1870 ganz so notwendig einen Krieg zwischen Deutschland und Rußland im Schoße trägt, wie der Krieg von 1866 den Krieg von 1870. Ich sage notwendig, unvermeidlich, außer im unwahrscheinlichen Falle eines vorherigen Ausbruchs einer Revolution in Rußland. Tritt dieser unwahrscheinliche Fall nicht ein, so muß der Krieg zwischen Deutschland und Rußland schon jetzt als un fait accompli (eine vollendete Tatsache) behandelt werden. Es hängt ganz vom jetzigen Verhalten der deutschen Sieger ab, ob dieser Krieg nützlich oder schädlich. Nehmen sie Elsaß und Lothringen, so wird Frankreich mit Rußland Deutschland bekriegen. Es ist überflüssig, die unheilvollen Folgen zu deuten.“

Karl Marx, 1870, Kommentar zum Deutsch- Französischen Krieg von 1870 bis 1871, prognostiziert den 1.Weltkrieg 1914-18 Folgt dieser Krieg aus

Sicht Russlands in erster Linie einer Ultima Ratio nach gescheiterten Versuchen eine „europäische Sicherheitsarchitektur“ unter Einbeziehung Russlands diplomatisch zu vereinbaren, um Gefährdungen und Bedrohungen präventiv entgegenzutreten? Interventionen im Kosovo (1999) und Irak (2003), der amerikanische Ausstieg aus dem ABM-Vertrag (2002), die Fortsetzung der NATO-Erweiterung ohne Inkraftsetzung des AKSE (2004), insbesondere der NATO-Beitritt der baltischen Staaten, die keinen KSE-Begrenzungen unterliegen, sowie die bilateral vereinbarte Stationierung amerikanischer Raketenabwehrsysteme in Polen und Tschechien und amerikanischer Heeres- und Luftkampfgruppen in Rumänien und Bulgarien (2007), in dieser Erzählung der wachsenden Unsicherheit und Bedrohung einer Großmacht wird der Krieg unausweichlich und notwendig. Oder ist die Ursache des Kriegs eine Rückkehr alter imperialer großrussischer Ansprüche, die mit der Nationalisierung der Geschichtsschreibung, der Ineinssetzung von Antifaschismus mit militärischer Größe und nationaler Stärke, die Wiedergeburt eines heroischen Maskulinismus gegen Verweichlichung und Liberalismus feiert? Wenn Jason Stanley im Guardian vom 26.2.2022 (Der Antisemitismus hinter Putins Forderung nach „Entnazifizierung“ der Ukraine) Wladimir Putin als faschistischen Führer der weltweiten Rechten bezeichnet und die ukrainische Rechte und den Antisemitismus in der Ukraine kleinschreibt, besteht im propagandistischen Kurzschluss die Gefahr, dass die NATO ein weiteres historisches Narrativ nutzen wird: dass der antifaschistischen Koalition der Alliierten gegen die Achsenmächte unter Führung des Dritten Reiches, ähnlich wie dies während des ersten Irakkriegs 1991 und des Kosovokriegs 1999 geschehen ist: immer wieder wurden neue Wiedergänger Hitlers (Saddam Hussein und Slobodan Milosevic) bekämpf, ein Genozid verhindert und Befreiungskrieg geführt. Doch wo ist ein Antisemitismus, einen auf dem Rassebegriff beruhender Faschismus in der russischen Politik, der einen neuen Holocaust androht? Russland ist ein historisch gewachsener multiethnischer Staat mit unterschiedlichen Religionen, föderalen Strukturen und Autonomierechten. Daher ist ernsthaft nachzuweisen: gibt es Parallelen in der Vorgeschichte des zweiten Weltkriegs und dem Aufstieg des imperialen Faschismus?

«Der wahre antifaschistische Kampf darf nicht auf Militarismus und Kriegskult aufgebaut werden. Er muss sich gegen jegliche faschistischen Bewegungen richten, ebenso wie gegen jedwede Erscheinungsform des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit, des Konservatismus und des Nationalismus.»

Stanislav Serhiienko

Und immer wieder der 2.Weltkrieg – trügerische Analogien

Bei einer Probe aufs Exempel könnte die Sudetenkrise 1938, der Einmarsch des Deutschen Reichs in die Tschechoslowakei 1939 herangezogen werden – ein multinationaler Staat mit mehreren großen Minderheiten, der unter den politischen Einfluss einer expansionistischen „Heim ins Reich“-Politik des nationalsozialistischen Regimes geriet. Die gut ausgerüstete und ausgebildete tschechische Armee hatte seit 1935 begonnen defensive Befestigungsanlagen unter französischer Militärhilfe zu errichten. Für die nationalsozialistische Führung war die Tschechoslowakei eine ernste Gefahr bei einem absehbaren Krieg mit Frankreich. Großbritanniens Regierung glaubte, dass das Deutsche Reich nur eine Autonomie für die Sudetendeutsche Minderheit erreichen wolle, und keine Annexion der gesamten Tschechoslowakei plane. In der Eskalation der Ereignisse glaubte Chamberlain noch Hitler, der sich auf „das Selbstbestimmungsrecht der Völker“ berief, mit einer Abtrennung der sogenannten sudetendeutschen Gebiete von der Tschechoslowakei zufriedenstellen zu können. Frankreich wollte wegen der Sudetenfrage keinen Krieg mit dem nationalsozialistischen Deutschland beginnen. Den Westmächten war damals unbekannt, dass Hitler in einer Konferenz 1937 mit den Spitzen von Wehrmacht, Marine und Luftwaffe und seinem Außenminister erklärt hatte, „Zur Verbesserung unserer militär-politischen Lage müsse in jedem Fall einer kriegerischen Verwicklung unser 1. Ziel sein, die Tschechei und gleichzeitig Österreich niederzuwerfen, um die Flankenbedrohung eines etwaigen Vorgehens nach Westen auszuschalten.“ In der Münchner Viermächtekonferenz am 29.9.1938 (Frankreich, Italien, Großbritannien und Deutsches Reich) ohne Beteiligung der ČSR und der UdSSR wurde beschlossen, der tschechischen Regierung die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete zu diktieren. Am 1. Oktober besetzten deutsche Truppen das so genannte Sudetenland. Den Tschechen wurde nur vage eine internationale Garantie ihrer Grenzen und ihres Territoriums in Aussicht gestellt. Eine militärische Unterstützung durch sowjetische Truppen war unmöglich, weil Polen den Durchmarsch verweigerte, und selbst von der ČSR das Olsagebiet annektierte. Die außenpolitischen Auswirkungen in Osteuropa waren verheerend. Nachdem die deutsche Wehrmacht die Tschechoslowakei 1939 besetzt hat, verloren die Westmächte an Ansehen, ihre Appeasement-Politik wurde als Schwäche ausgelegt. Der schon vorher gegenüber den Westmächten misstrauische Stalin revidierte seine Außenpolitik, was mit zum Hitler-Stalin-Pakt führte.
Die Unterschiede zum Ukrainekrieg liegen auf der Hand: die Ukraine liegt nicht isoliert abgeschnitten zwischen feindlichen Nationen (auch Ungarn stellte Gebietsforderungen an die CSR, was mit zu ihrer Auflösung geführt hat). Die Ukraine erhält uneingeschränkte militärische Hilfe, es gibt keine weiteren territorialen Zugeständnisse außer der Krimhalbinsel und dem Donezbecken, die bisher politisch von den alliierten Schutzmächten in Erwägung gezogen oder Verhandlungsmasse wurden. War die „neutrale“ deutsche Position vor dem Einmarsch am stärksten an einer Verhandlungslösung interessiert, so änderte sich dies mit der Invasion, die NATO und EU scheint eine geschlossene einheitliche Front zu bilden. Die Befürchtung der Ukraine, insgeheim von seinen Verbündeten schon abgeschrieben zu sein, ist noch nicht offen eingetreten, und hängt vom Erfolg der ukrainischen Armee ab. Umgekehrt ist eine gestärkte Ukraine ein militärischer Lagevorteil für die NATO, auch weil es den Handlungsspielraum der russischen Schwarzmeerflotte einschränkt. Eine Aufgabe der Ukraine würde das Vertrauen der osteuropäischen NATO-Länder in unmittelbarer Nachbarschaft Russlands (Baltikum, Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien) erschüttern. Eine wesentliche Frage im historischen Vergleich ist jedoch, ob die russische Führung die Besetzung und Zerschlagung der Ukraine zur Vorbereitung eines weiteren kriegerischen Vorgehens und einer gewaltsamen Expansionspolitik führt, welches die Kriegsziele der russischen Führung sind. Wenn Putin jetzt erklärt, er wolle die jetzige ukrainische Regierung nicht absetzen (was jedoch wahrscheinlich sein erstes Kriegsziel war), ist dies dann so glaubwürdig wie Hitlers Rede vom 26.09.1938, in der er der Tschechoslowakei mit Krieg drohte, und gleichzeitig log, er wolle gar keine Tschechen, und die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete wäre seine letzte territoriale Forderung?
Meiner Ansicht nach gibt es zu wenige Fakten, die für einen wirklich umfassenden aktuellen Kriegsplan in Osteuropa sprechen. 150.000 Soldatinnen in der Ukraine reichen dazu nicht aus. Russland allein ist in vielen Bereichen den verbündeten NATO-Ländern unterlegen. Nur mit China im Rücken könnte die russische Führung eine Eskalation wagen. Die russische Führung hat sich sehr wahrscheinlich eine Vollmacht für ihr Vorgehen in Peking geholt. Der Beginn einer großen Auseinandersetzung hat nur dann eine reale Motivation, wenn Russland eine zukünftige noch stärkere Verschlechterung der Kräfteverhältnisse zu seinen Ungunsten befürchtet. Bisher jedoch hat die Invasion in der Ukraine zum gegenteiligen Effekt geführt: die Bundesrepublik Deutschland beschließt das größte Aufrüstungsprogramm der jüngeren Geschichte, Schweden und Finnland erwägen den Beitritt zur NATO. Polen hat seit Jahren seine Rüstungsanstrengungen und die Aufstockung der Truppe (Ziel ist es von 110.000 auf 250.000 Soldatinnen zu erhöhen) noch massiv verstärkt. Durch die Invasion in die Ukraine haben die Kriegsvorbereitungen der NATO-Länder eine neue Dimension erreicht, deren Auswirkungen noch nicht abzusehen ist. Neben den Unterschieden gibt es jedoch auch frappierende Ähnlichkeiten von der Sudetenkrise und dem Einmarsch in die Ukraine: Russland benutzt die (angebliche und tatsächliche) Diskriminierung und Verfolgung der ethnischen Russen und Russischsprachigen in der Ukraine zum Anlass einer völkisch-nationalistischen Expansionspolitik. Putins Grundsatzreden vom Zerfall der Sowjetunion als der größten geopolitischen Tragödie des 20.Jahrhunderts, die Beschwörung einer mythologisierten spirituellen und historischen russischen Einheit seit dem frühen Mittelalter (das Weißrussland, Russland und die Ukraine einschließt) findet seine Parallelen in Hitlers Traum der Wiedergeburt eines Großgermanischen Reichs, dass an ein mystisches mittelalterliches „Altes Reich“ anknüpfte. Es wäre meiner Ansicht trotz dieser Parallelen falsch den russischen repressiv-autoritären Ausnahmestaat mit einem faschistischen Führerstaat, einer durch Partei und korporatistische Verbände zwangsintegrierte Gesellschaft gleichzusetzen. Hitlers Wunsch die ČSR zu zerstückeln war gewöhnliche imperialistische Politik, der Aufstieg des ethnischen Nationalismus im 19.Jahrhundert eskalierte diese Konkurrenz der Staaten und nationalen Kollektive. Österreich-Ungarn gab 1914 als erstes Kriegsziel aus Serbien zu verkleinern und den Panslawismus zu schwächen. Die halbe Lüge der Habsburger Diplomatie, man wolle keine Territorien Serbiens erobern (obwohl der königliche Ministerrat beschlossen hatte, serbische Territorien an Albanien, Griechenland und Bulgarien aufzuteilen) ist die Vorgängerin der Lüge Hitlers, er wäre mit der Annexion des Sudetenlandes befriedigt. Ist die „Heim ins Reich“-Erzählung Putins eines einigen Russlands nur einfach eine populäre Begründung für die „russische Seele“ und ihre Sehnsüchte, die er benutzt, um die Menschen für seine Politik zu gewinnen? Russland zum antagonistischen dämonisierten Gegenspieler des demokratischen Westens zu machen, ignoriert Parallelen der imperialen Politiken beider Blöcke – ironischerweise spricht Putin aktuell von einem Genozid im östlichen Landesteil der Ukraine, um seine Intervention als vom Völkerrecht abgedeckt zu legitimieren, dies ist eine deutliche Anspielung auf die Kriegsbegründung der NATO zum Kosovokrieg 1999, der sogenannte Hufeisenplan (Vertreibung der albanischen Bevölkerung des Kosovo), die sich im Nachhinein als Manipulation und Kriegspropaganda zur Legitimierung des seit Oktober 1998 7 vorbereiteten Angriffskriegs der NATO erwiesen hat. Es sind viel wahrscheinlicher die Bewegungsgesetze des Imperialismus, die den Ukrainekrieg ausgelöst und einen Weltkrieg am Horizont erscheinen lassen. Und daher wäre, gegen die Fixierung auf den Vergleich mit der Weltlage vor dem 2.Weltkrieg zu diskutieren, ob die scharfen Gegensätze und Eskalation heute mit der Vorgeschichte des 1.Weltkrieges nicht besser zu vergleichen ist, bei der verschiedene Großmächte mit ihren imperialen Interessen in Konflikt gerieten.

Der Imperialismus in Russland ist ebenso wie in den westlichen Staaten aus verschiedenartigen Elementen zusammengeflochten. Seinen stärksten Strang bildet jedoch nicht wie in Deutschland oder in England die ökonomische Expansion des akkumulationshungrigen Kapitals, sondern das politische Interesse des Staates. Freilich hat die russische Industrie, wie das für die kapitalistische Produktion überhaupt typisch ist, bei aller Unfertigkeit des inneren Marktes, seit längerer Zeit auch schon einen Export nach dem Orient, nach China, Persien, Mittelasien aufzuweisen, und die zarische Regierung sucht diese Ausfuhr als erwünschte Grundlage für ihre „Interessensphäre“ mit allen Mitteln zu fördern. Aber die Staatspolitik ist hier der schiebende, nicht der geschobene Teil. Einerseits äußert sich in den Eroberungstendenzen des Zarentums die traditionelle Expansion des gewaltigen Reichs, dessen Bevölkerung heute 170 Millionen Menschen umfasst und das aus wirtschaftlichen wie strategischen Gründen den Zutritt zum freien Weltmeer, zum Stillen Ozean im Osten, zum Mittelmeer im Süden zu erlangen sucht. Andererseits spricht hier das Lebensinteresse des Absolutismus mit, die Notwendigkeit, in dem allgemeinen Wettlauf der Großstaaten auf weltpolitischem Felde eine achtunggebietende Stellung zu behaupten, um sich den finanziellen Kredit im kapitalistischen Auslande zu sichern, ohne den der Zarismus absolut nicht existenzfähig ist. Hinzu tritt endlich wie in allen Monarchien das dynastische Interesse, das bei dem immer schrofferen Gegensatz der Regierungsform zur großen Masse der Bevölkerung des äußeren Prestiges und der Ablenkung von den inneren Schwierigkeiten dauernd bedarf als des unentbehrlichen Hausmittels der Staatskunst.“

Rosa Luxemburg zu Russlands Gründe für den 1.Weltkrieg, Junius-Broschüre 1915

Gegen die linken Bellizisten auf beiden Seiten

„Zudem hat die NATO im Zusammenhang mit dem Jugoslawienkrieg das Völkerrecht mehrfach und schwer verletzt… Serbien hatte keinen anderen Staat angegriffen, und es gab keinen Beschluss des UN-Sicherheitsrates. Es wurde dennoch mit erstmaliger bundesdeutscher Beteiligung nach 1945 bombardiert. Und die Bewohnerinnen und Bewohner des Kosovo durften in einem Volksentscheid die Loslösung von Serbien beschließen. Ich habe damals die Völkerrechtsverletzung schwer kritisiert und Ihnen gesagt: Sie öffnen beim Kosovo eine Büchse der Pandora; denn wenn das im Kosovo erlaubt ist, müssen Sie es auch in anderen Gegenden erlauben. Sie haben mich beschimpft. Sie haben es nicht ernst genommen, und zwar weil Sie glaubten, solche Sieger im Kalten Krieg zu sein, dass alle alten Maßstäbe für Sie nicht mehr gelten… Ich wusste aber, dass sich Putin auf den Kosovo berufen wird, und er hat es auch getan.

Gregor Gysi 2014 zur Annexion der Krim

Ein Ausweg aus dem Dilemma sich mit keiner Kriegspartei identifizieren zu können und zu wollen ist der Vorschlag sich mit den Opfern des Kriegs zu solidarisieren: „Stattdessen sind wir mit jenen parteilich, die unter dem Krieg leiden und sich ihm widersetzen, in der Ukraine, in Russland und überall. Die Menschen tun dies auf vielfältige Weise und nehmen dabei unterschiedliche Risiken in Kauf, wenn sie fliehen, desertieren, zivilen Ungehorsam leisten oder kämpfen.“ (Aufruf der IL, Den Krieg in der Ukraine stoppen, 11.03.2022)
Da der Krieg auf dem Boden der Ukraine ausgetragen wird, eine Fluchtwelle von mehr als 2,5 Millionen Menschen durch den Krieg ausgelöst wurde, die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Ende des 2.Weltkriegs, gilt die Solidarität in erster Linie den Opfern des russischen Angriffskriegs und der Antikriegsbewegung in Russland. Aus Sicht eines taktischen Pazifismus des russland-apologetischen Flügels innerhalb der Linken geht dies schon zu weit: alles was Russland real und praktisch schadet wird vermieden, so auch Wirtschaftsboykott oder die Unterstützung der russischen Antikriegsbewegung (die die russische Führung in deren Kriegslogik als vom Ausland gesteuert und 5.Kolonne bezeichnet). Die Verurteilung des Angriffskriegs als völkerrechtswidrig erfolgt einleitend um dann umstandslos Putins Kriegsbegründung argumentativ nachzuvollziehen – Faschistoides Regime in der Ukraine, NATO-Osterweiterung – gerne ausgelassen aus Putins Kriegserklärung wird der völkisch- nationalistischer Einschub über die Zersetzung der traditionellen Werte: „In der Tat haben die Versuche, uns für ihre Interessen zu missbrauchen, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns ihre Pseudowerte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen würden, nicht aufgehört, jene Haltungen, die sie bereits aggressiv in ihren Ländern durchsetzen und die direkt zu Degradierung und Entartung führen, da sie gegen die menschliche Natur selbst gerichtet sind.“ (Wladimir Putin, 24.02.22).
Die russland- apologetische Linke versteht sich als verlängerter Arm der russischen Außen- und Sicherheitspolitik, die sie rechtfertigt, flankiert und erklärt – dabei ist diese Linke zu allerhand argumentativen abstrakten Verrenkungen bereit, aktuell z.B. in der Einordnung der Niederschlagung von Arbeiterinnen-Protesten und Streiks in Kasachstan auch mit Hilfe einmarschierter OVKS-Truppen aus Russland –auch aus Angst zum nützlichen Idioten für die westliche imperialistische Kriegspartei zu werden – da machen sie sich lieber zu nützlichen Idioten für den russischen Imperialismus. Die Gefahr der Funktionalisierung ist nie ganz von der Hand zu weisen, nützen die konkurrierenden Großmächte jede Gelegenheiten Russland innenpolitisch zu destabilisieren – wie dies Russland umgekehrt mit seiner Protektion von rechtspopulistischen Parteien oder Coronaleugnern in Europa auch versucht. Einer linken bellizistischen Fraktion der Verteidigung der westlichen Werte geht die Solidarität mit der betroffenen Bevölkerung nicht weit genug, für sie ist Pazifismus die falsche Antwort auf einen imperialen Aggressor, er ist aus ihrer Sicht feige und naiv. Die Zustimmung zur bewaffneten Unterstützung der Ukraine ist bei Wählerinnen der Grünen am größten: wie im Kosovokrieg wird immer wieder ein antifaschistischer Befreiungskrieg proklamiert, um einen drohenden Faschismus zu besiegen und einen Völkermord zu verhindern.
Psychologisch rekurriert die linke, bellizistische Haltung auf das oft dysfunktionale Beziehungsmuster Dramadreieck, in dem die Rollenerwartungen von Täter, Opfer und Retter aus der inneren Notwendigkeit des Beziehungsmusters ausgefüllt werden. Historisch wiederholt sich das Muster im Trauma der Niederlage der Linken gegen den Nationalsozialismus, der immer wieder nachträglich besiegt werden muss. Es ist auch die Angst ein zweites Mal zu versagen, und rekurriert auf die Erfahrung, dass der Nationalsozialismus nicht durch die Linke und Partisaninnen besiegt wurde, sondern durch die militärische Macht imperialer Großmächte. In Osteuropa ist die poststalinistische Machtpolitik präsenter, die Niederschlagung von ungarischer Reformbewegung, dem Prager Frühling bis zur Solidarnosc – das Trauma der erlebten Ohnmacht gegenüber dem übermächtigen Russland aktualisiert im Ukrainekrieg die Furcht vor der Rückkehr des Archipel Gulag. Nur „der Westen“ scheint die Garantie zu bieten, dem drohenden „Vielvölkergefängnis“ zu entkommen. Beide bellizistischen Flügel verfolgen das Ziel, die Kriegsschuldfrage eindeutig zu beantworten und die gegnerische Partei zu beschuldigen, die Gegenseite zu isolieren und zu schwächen, die Kriegsziele der eigenen Seite zu verschleiern, um die Nationen hinter der eigenen nationalen Führung zu einen und zu sammeln. Doch jenseits aller ideologischer selbstbezogener Aufladungen der Ereignisse, unabhängig davon,
welche Seite faschistischer, imperialistischer und verdammungswürdiger ist – es ist Krieg, Menschen zerfetzen, verbrennen und sterben, und es droht ein noch mörderisches Abschlachten und grausamere Schrecken, bei den Menschen aller Länder und Kontinente elend sterben und leiden werden.

»Ich habe eine Tragödie geschrieben, deren untergehender Held die Menschheit ist. Weil dieses Drama keinen anderen Helden hat als die Menschheit, so hat es auch keinen Hörer. Woran aber geht mein tragischer Held zugrunde? War die Ordnung der Welt stärker als seine Persönlichkeit? Nein, die Ordnung der Natur war stärker als die Ordnung der Welt. Er zerbricht an der Lüge. Er vergeht an einem Zustand, der als Rausch und Zwang zugleich auf ihn gewirkt hat.«

Karl Kraus– (Die letzten Tage der Menschheit, Szene 5,54)


Eine Linke, die sich weder mit dem bellizistischen Flügel auf der Seite der NATO noch mit dem Russland-apologetischen Flügel auf der Seite der OVKS stellen will, nimmt damit keine Mittelposition ein, keine bloß neutrale Anschauung. Sie wendet sich gegen den Krieg als solchen, gegen seine Wurzeln im Imperialismus, Patriarchat, Rassismus und Unmenschlichkeit. „Krieg dem Kriege“ titelte der radikale Pazifist und Antimilitarist Ernst Friedrich seinen Bildband über den ersten Weltkrieg, der zur Zeitenwende geworden ist, und dieser Titel beschreibt treffend die schwierige Dialektik im Krieg gegen den Krieg zu sein. Die zweite sozialistische Internationale ist vor dem ersten Weltkrieg gescheitert. Sie wollte nicht, dass Arbeiter auf ihre Brüder schießen, sie schwor sich dem vernichtenden industriellen Morden verweigern, für den Profit weniger im Drahtverhau zappelnd zu verrecken. Und doch stürzten sich im nationalen Taumel die Massen in den Tod, und vergaßen alle Vorsätze, auch weil sich jeder von jedem bedroht fühlte. Die dritte und vierte Internationale und anarchistischen Antifaschistinnen konnte den Aufstieg des Faschismus nicht verhindern, weder in Italien noch in Deutschland oder Spanien, und dies führte mit zum noch größeren Sterben im zweiten Weltkrieg und zur Shoa. Die Barbarei von Auschwitz und des deutschen Vernichtungskriegs war der neue historische Zivilisationsbruch: Nie wieder Auschwitz! Nie wieder Krieg! wurde der Imperativ einer überlebenden antifaschistischen Generation nach 1945.

»Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe

(Theodor W. Adorno)


Die Antikriegsbewegung nach 1945 wandte sich gegen alles, was einen neuen Krieg vorbereitete, gegen die atomare Aufrüstung, die einen großen Krieg mit der Drohung mehrfacher gegenseitiger Vernichtung der Menschheit abschrecken wollte, gegen den Irrsinn des Wettrüstens und der Vernichtung von unfassbaren Gegenwerten. 1960 Milliarden US-Dollar (1,96 Billion) wurden 2020 für Rüstung ausgegeben, und entsprechend Ressourcen verbraucht und Arbeitskraft verausgabt. Die Zeit ab 1945 ist erfüllt mit zahlreichen lokalisierten Kriegen und antikolonialen Befreiungskämpfen- Frieden ist eben nicht gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Krieg, sondern mit dem Ende von Ausbeutung, Unterdrückung, Kolonialismus, Rechtlosigkeit, Abhängigkeit, Elend, Hunger, alltäglicher Gewalt und des Terrors der Herrschenden. Nach einer kurzen Euphorie der Entspannung und des „Endes bewaffneter Konflikte“ nach dem Ende des kalten Kriegs ist wieder ein neuer Höchststand der Kriegsvorbereitung erreicht, zahlreiche Stellvertreterkriege und „asymmetrische Konflikte“ schwelen weltweit. Angesichts der Permanenz von Krieg und der existentiellen Zerstörungen von Hoffnungen und Sicherheiten weltweit wirkt ein Pazifismus, der ans Gewissen appelliert und an den eigentlichen Friedenswillen der eigenen nationalen Politik illusionär glaubt, wie gemütliches Biedermeier kurz vor der Katastrophe imperialistischer Eskalation.

„Wer Krieg nur als abstrakte Gefahr und die atomare Vernichtung vor allem als technologisches Risiko diskutiert, erteilt deren Betreibern Generalabsolution. Er attestiert staatlicher Politik indirekt, was deren Vertreter ohnehin unablässig von sich behaupten daß die Bewahrung des Friedens ihr ureigenstes Anliegen sei und man sich lediglich im Weg zum selben Ziel unterscheide. Der Protest gegen die Nachrüstung versackt so in der Debatte um Fragen der Sicherheitspolitik, die pazifistischen Ambitionen verkehren sich in Lektionen über alternative Wehrkunde. Die Stationierung der Raketen soll nicht gegen den Willen der Regierung, sondern kraft Überzeugung und besserer Argumente verhindert werden. Eben deshalb bleiben so viele Aktionsformen aus den Reihen der Friedensbewegung von der Unterschriftensammlung bis hin zum frömmelnden Fasten, dessen Effekt in erster Linie in der Genugtuung über die eigene Opferbereitschaft besteht stets Appell an die Vernunft, getragen von der durch nichts zu belegenden Hoffnung, daß gute Gründe oder Moral und nicht etwa die Notwendigkeiten der Kapitalverwertung den Machthabern die Maßstäbe diktieren, die sie ihren Entscheidungen zugrunde legen.“

Revolutionäre Zellen, 1983


In der Menschheitsgeschichte konnte der Zyklus aus Krise und Krieg bisher nicht unterbrochen werden. Weder von der organisierten Arbeiterinnenbewegung, die 1914 den nationalen Burgfrieden einhielt, und keinen Generalstreik ausrief, weder von bürgerlicher Friedensbewegung noch antimilitaristischer Initiativen, die die Raketenstationierung 1983 nicht verhindern konnten. Auf welches Herz der Vernunft will sich eine Antiimperialistische Opposition heute gründen? Auf das der Menschheit wohl kaum. Die Drohung mit gegenseitiger Vernichtung, mit einem atomaren Winter, der die Welt zum Schatten ihrer selbst macht, ist ein schlechter pädagogischer Ratgeber, er wurzelt in einer apokalyptischen Angst, die schon in der Pandemie destruktiv wirkte und nicht zu radikaler Gesellschaftskritik und bescheidener Weisheit führte.


Zärtlichkeit der Völker (Gioconda Belli)

Ich habe Ihnen gesagt, dass Solidarität die Zärtlichkeit der Völker ist. Ich habe es dir nach dem Triumph gesagt, nachdem wir durch die harten Zeiten der Kämpfe und Tränen gegangen sind; jetzt, während ich mich an Dinge erinnere, die da draußen passiert sind, als alles träumte und träumte, wachte und schlief, nie müde wurde, den Traum zu mörteln , bis er aufhörte zu sein, bis wir die rot-schwarzen Fahnen – wirklich – über der Erde wehten sahen Häuser, die kleinen Häuser, die Hütten, die Bäume auf der Straße und wir dachten an alles , was wir durchleben mussten, und es war wie ein großes Puzzle aus Wut und Feuer und Blut und Hoffnung…