In wenigen Wochen wird im Prozess gegen den ehemaligen Bundeswehrsoldaten mit Umsturzplänen Franco Albrecht aus Offenbach das Urteil gesprochen. Die Verhandlungstage sind derzeit bis Ende Mai terminiert. Die Abrechnung von Sonja Brasch zu Gerichtsurteilen in Rechtsterror Prozessen ist der zweite Teil unserer Textreihe, welche auf das anstehende Urteil aufmerksam machen soll. (Teil 1) Zuerst erschienen ist die Analyse in Autoritärer Sog – Gefährliche Veränderungen in der Gesellschaft (Vorbreitungskreis des Gesprächskreises Rechts).

Gegenstände des Prozesses

Das Urteil im Prozess gegen Stephan Ernst und Markus H. erging nach 45 Prozesstagen am 28. Januar 2021, doch aufgeklärt sind die Umstände des Mordes an Walter Lübcke und des Angriffs auf Ahmed I. noch lange nicht. Die zentralen Fragen der beiden Nebenklageparteien blieben unbeantwortet, alle Verfahrensbeteiligten legten Revision gegen die Entscheidung des 5. Strafsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main ein. Zurück bleiben die Erinnerungen an einen langen, kräftezehrenden Prozess und wichtige und ernüchternde Erkenntnisse über den Umgang mit rechtem Terror und Rassismus in Deutschland.


In der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke ermordet, hingerichtet mit einem Schuss in den Kopf auf der Terrasse seines Wohnhauses in Istha. Sein Mörder, der Kasseler Neonazi Stephan Ernst, wurde zwei Wochen später festgenommen, überführt hatten ihn die Ermittler*innen mittels einer DNA-Spur am Hemd des Toten. Kurz nach der Festnahme wandte sich der 2015 aus dem Irak nach Deutschland geflüchtete Ahmed I. zusammen mit der Opferberatungsstelle response per Brief an die ermittelnde Staatsanwaltschaft, da er vermutete, dass Ernst es war, der ihn im Januar 2016 mit einem Messer niedergestochen hatte. Die Bundesanwaltschaft ermittelte und gab im März 2020 bekannt, dass auch diese Tat Gegenstand des Verfahrens sein würde.


Beide Verbrechen müssen zusammen betrachtet werden, auch wenn das Gericht nicht von Ernsts Schuld im Fall Ahmed I. überzeugt ist. Sie bilden die zeitliche Klammer der rassistischen Mobilisierung im Land und stellen die folgerichtige Umsetzung der Propaganda von AfD und ihren Anrainerorganisationen, der selbst ernannten «Mosaikrechten», dar.


Lohfelden als Kristallisationspunkt der rassistischen Mobilisierung


Deutschland im Jahr 2015, der Sommer der Migration. Die Politik setzt bundesweit auf die Einrichtung großer Erstaufnahmelager. So auch in Nordhessen. Für die Organisation ist das Regierungspräsidium verantwortlich, dem der CDU-Mann Walter Lübcke als Regierungspräsident vorsteht. Auf dem alten Flughafengelände in der Nähe des 3.000-Seelen-Dorfs Calden etwa wird eine Zeltstadt für ebenso viele Personen errichtet, gleichzeitig wird der 2013 neu eröffnete und unrentable Flughafen Kassel-Calden zu einem der zehn wichtigsten Abschiebeflughäfen Deutschlands. Die Landtagsfraktion der LINKEN kommentierte damals in einer Pressemitteilung: «Parallel zu den Plänen in Bayern, grenznahe Abschiebelager zu errichten, entsteht im schwarz-grün regierten Hessen ein großes Zeltlager am Flughafen Kassel-Calden. Offensichtlich soll der rote Zahlen schreibende Regionalflughafen nun als Abschiebeflughafen seine Daseinsberechtigung erhalten. Das ist das hessische Verständnis von One-Stop-Government: Aufnahme und Abschiebung in einem Zug. Das Vorhaben ist ein Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die sich für eine menschenwürdige Unterbringung von Flüchtlingen einsetzen. Und es ist ein Armutszeugnis der besonderen Art für die hessischen Grünen.» (Cárdenas 2015).


In anderen Städten und Gemeinden werden alte Baumärkte zu Unterkünften umfunktioniert. So auch in Lohfelden, einem Vorort von Kassel. Um der Bevölkerung die Lagerpolitik nahezubringen, werden Bürgerversammlungen abgehalten, auf denen sich dann allerdings die rassistische Stimmung entlädt. Der lokale Pegida-Ableger Kagida («Kassel gegen die Islamisierung des Abendlandes») hatte zur Teilnahme an der Versammlung am 14. Oktober 2015 im Bürgerhaus Lohfelden aufgerufen, viele Anhänger*innen waren dem Aufruf gefolgt. Unter ihnen auch die späteren Angeklagten Stephan Ernst und Markus H.


Die Stimmung war von Beginn an aufgeheizt. Hier sagte Lübcke den Satz, der ihn zur Zielscheibe der Rechten machen sollte: «Ich würde sagen, es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten. Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist.» Markus H. filmte die Szene, schnitt sie zusammen und lud sie auf seinem Youtube-Kanal hoch. Das Video wurde oft geteilt und in verschiedenen Momenten der rassistischen Mobilisierung aufgegriffen, unter anderem von dem Katzenkrimi-Autor und Compact-Kolumnisten Akif Pirinçci und der Ex-CDUlerin und heutigen Vorsitenden der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, Erika Steinbach. Walter Lübcke erhielt Drohungen, seine Adresse wurde im Internet veröffentlicht.

der Angriff auf Ahemd I. und ein Täter auf einem Fahrrad


Im November 2015 wurde Ahmed I. nach seiner Flucht aus dem Irak im ehemaligen Hornbach-Markt in Lohfelden untergebracht, ebenjener Unterkunft, die in der Rechten bundesweit mit der Aussage Lübckes verbunden wurde. Der junge Musiker, der vor dem IS aus seiner Heimat fliehen musste, wollte am Abend des 6. Januar 2016 zur Tankstelle gehen, um Zigaretten zu holen. Er hörte Musik und rauchte, als sich ihm eine Person von hinten auf einem Fahrrad näherte. Er machte instinktiv einen Schritt zur Seite, um Platz zu machen, spürte einen Schlag am Rücken und sank zu Boden, als ihm die Beine versagten. Der Täter hatte ihm eine Klinge zwischen die Schulterblätter gerammt und ihn schwer verletzt. Bis heute hat Ahmed I. mit den Folgen der Verletzung zu kämpfen. Schnell zog er die Verbindung zur «Kölner Silvesternacht» und gab den Beamt*innen, die ihn kurz nach der Operation im Krankenhaus befragten, direkt zu verstehen, dass für ihn nur Rassismus als Tatmotiv infrage komme. Er sei nicht beraubt worden und mit seiner Kapuze nicht als Geflüchteter zu erkennen gewesen, sodass er davon ausgehe, dass der Täter ihn beim Verlassen der Unterkunft beobachtet hat. Die Beamten jedoch vermuteten den Täter im Umfeld von Ahmed I. Ob er in der Unterkunft Feinde gehabt habe oder ob es nicht ein Racheakt des IS gewesen sein könnte, fragten sie ihn ein ums andere Mal. Die Übersetzerin, die nicht dasselbe arabische Idiom wie er sprach, hatte offensichtlich Mühe, eine Verständigung zwischen Ahmed I., der eben eine Notoperation überstanden hatte, und den argwöhnischen Polizist*innen herzustellen. Ein Umstand, der sich vor Gericht stark zum Nachteil des Opfers auswirken sollte.


Die Überwachungskameras der umliegenden Betriebe lieferten Bilder des Radfahrers. Auch wenn sie von schlechter Qualität sind, waren Rückschlüsse auf das Fahrrad möglich. Schließlich wurde doch der Staatsschutz eingeschaltet, die Ermittlungen wurden zweigeteilt, wobei nur die Staatsschutzbeamt*innen Einblick in die Unterlagen zu rechts motivierten Straftäter*innen hatten. Während die Kriminalbeamt*innen vorbestrafte Messertäter in der Umgebung befragten, wurden die Staatsschutzbeamt*innen mit der Befragung von 31 polizeibekannten rechts motivierten Straftätern beauftragt. Unter ihnen auch Stephan Ernst, der im angrenzenden Stadtteil Forstfeld mit seiner Familie lebte. Ob den Beamt*innen auffiel, dass Ernst auf beiden Listen zu finden war, ist bisher unklar. Er wurde ebenso wie die anderen aufgesucht und zu seinem Alibi und seinem Fahrrad befragt. Er gab an, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren, an diesem Tag aber Urlaub gehabt zu haben und zu Hause gewesen zu sein. Weitere Schritte oder eine Überprüfung des Alibis wurden nicht unternommen.


Ernst erwähnte in seiner Befragung vor Gericht, von den Ereignissen zum Jahreswechsel 2015/16 in Köln sehr aufgebracht gewesen zu sein. Er beschrieb die «Silvesternacht» als eines der Schlüsselerlebnisse seiner «Radikalisierung». Die rechte Version des Narrativs der Ereignisse auf der Domplatte hatte (und hat bis heute) großen Einfluss auf die rassistische Mobilisierung im Land und wirkte weit in die Gesellschaft hinein. Unabhängig von den tatsächlichen Geschehnissen in der Nacht wurde der Topos der «weißen deutschen Frau», die es zu schützen gelte, in rechten wie in bürgerlichen Medien bedient. Ernst gab an, viel rechte Propaganda zu dem Thema konsumiert zu haben und vor allem von Videos beeinflusst worden zu sein, die Gewalt gegen weiße Frauen durch nicht weiße Täter zum Thema hatten. Zwar stritt er den Messerangriff wiederholt ab, brachte aber selbst das Datum des Angriffs in die Vernehmung ein. Er gestand, aus Wut über die Ereignisse Wahlplakate zerstört zu haben. Indes wurde während des Prozesses ermittelt, dass Anfang Januar noch keine Plakateim Stadtteil aufgehängt waren, weshalb Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann diese Geschichte als eine Deckerzählung für den Angriff auf Ahmed I. wertet. Ernsts Erregung über die «Silvesternacht» lässt sich auch durch Whatsapp-Nachrichten an seine Mutter belegen.

Verknüpfung von Rassismus und Sexismus


Die «Ethnisierung von Gewalt» (vgl. AK Fe.In 2019) ist eine der wichtigsten Triebfedern rassistischer Mobilisierung: AfD, Pegida & Co instrumentalisieren Fälle von Gewalt gegen Frauen ausschließlich, wenn der Täter Schwarz oder PoC ist oder keine deutsche Staatsbürgerschaft hat, und jagen entsprechend aufgeladene Meldungen über diese Vorfälle durch die sozialen Medien. Bundesweit wurde zu sogenannten Frauenmärschen aufgerufen, die Identitären betrieben die Internetkampagne «#120 dB», um die Bedrohung weißer deutscher Frauen hochzujazzen. Unterstützt wurde diese Entwicklung quer durch die Medienlandschaft der «Mitte der Gesellschaft». Der Hamburger Journalismusprofessor Thomas Hestermann stellte 2019 in einer Expertise zur Nennung der Herkunft der Täter in der Berichterstattung fest, dass hier ein Zerrbild der Realität entstehe. Als Ausgangspunkt für diese Entwicklung machte auch er die «Silvesternacht von Köln» aus (Hestermann 2019).


Die Verknüpfung von Sexismus und Rassismus ist nicht neu, hat aber seit 2015 eine neue Qualität. Aus diesem Narrativ leiten sich bestimmte Angebote ab, die auf fruchtbaren Boden fallen. Frauen erhalten zum einen die Möglichkeit, offen ihren Rassismus auszuleben, zum anderen wird über das Vehikel Rassismus das reale Problem frauenfeindlicher Gewalt thematisierbar. Da Gewalt gegen Frauen vor allem im eigenen Nahumfeld stattfindet,1 ist das Sprechen darüber tabuisiert. Ein Weg, mit den Gewalterfahrungen umzugehen, ist, sie in ein besprechbares Feld zu verlagern. Die Gewalt wird dann ausschließlich als «fremd» wahrgenommenen Personen zugeschrieben, anstatt das Problem gesamtgesellschaftlich zu begreifen. Für Männer wiederum bietet das Narrativ einen einfachen Ausweg aus der vermeintlichen Krise der Männlichkeit. Der Mann wird daran erinnert, «seine» Frauen zu beschützen. Stephan Ernst benannte vor Gericht vor allem die Angst, seiner Tochter könne Gewalt angetan werden. Er habe Waffen für sich und seine Arbeitskollegen beschafft, weil es Zeit gewesen sei, «den deutschen Mann» zu bewaffnen. Man denke dabei an die Rede von Björn Höcke aus dem Jahr 2015, in der er forderte: «Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken. Denn nur wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft, und wir müssen wehrhaft werden, liebe Freunde!» (Zit. n. Stokowski 2015)


Das damit herbeifantasierte Bürgerkriegsszenario, die Angst vor dem «Volkstod», der «Umvolkung» oder «dem großen Austausch» und die deshalb benötigte Wehrhaftigkeit, ist in der Vorstellungswelt der völkisch-nationalistischen Rechten zentral. Der Schutz der «Volksgemeinschaft», oder in welche modernen Worte und Medienstrategien sich das Thema auch immer kleiden lässt, ist eins der Kernelemente rechter Ideologie (vgl. Bitzan 2016) und seit jeher ein Motiv für faschistische Gewalt gegen all diejenigen, die im Krieg «auf der falschen Seite» stehen.


An den beiden Taten, die mit der Geflüchtetenunterkunft in Lohfelden verbunden sind, lässt sich diese Dynamik analysieren. Der Angriff auf Ahmed I. erfolgte, um konkret Angst unter den Menschen zu verbreiten, die hier Schutz suchen. Als junger Mann und damit als angebliche Bedrohung «für die deutsche Frau» passte er besonders gut ins Feindbild. Walter Lübcke wiederum wurde nicht in erster Linie als CDU-Politiker ermordet, sondern als Vertreter der «Willkommenskultur». Der Kurs von Kanzlerin Angela Merkel war vielen ein Dorn im Auge, selbst viele CDUler*innen fühlten sich dieser Kultur nicht zugehörig. Der Mord ängstigte vor allem die ehrenamtlichen Helfer*innen und Sozialarbeiter*innen in der Geflüchtetenbetreuung (vgl. Brasch 2020). Die zurückhaltende Reaktion der CDU auf den Mordanschlag zeigte, dass sie sich nicht wirklich angegriffen fühlte. Denn wie auch schon im Zuge der Welle rassistischer Gewalt nach der «Wende» gab die Politik der rassistischen Hetze nach. 1993 hatte man sich vom bis dahin uneingeschränkten Asylrecht des Grundgesetzes verabschiedet. Mit dem Aufkommen der rassistischen Mobilisierungen hatte man das europäische Grenzregime weiter ausgebaut und verantwortet seither den Todesstreifen um Europa, um unerwünschte Menschen nicht mehr nach Deutschland kommen zu lassen. 2019 hielten Politik und Ermittlungsbehörden an der These des Einzeltäters fest, statt den Mord an einem aus den eigenen Reihen zum Anlass zu nehmen, endlich gegen die rechten Strukturen konsequent vorzugehen. Man stelle sich nur vor, wie der Staat reagiert hätte, stünde ein linksterroristischer Hintergrund auch nur im Raum.


Ein notorischer Lügner


Für den versuchten Mord an Ahmed I. wurde Stephan Ernst nicht belangt. Der 5. Strafsenat sah die Beweise nicht als ausreichend für eine Verurteilung an. Die DNA-Spur am Hemd von Walter Lübcke überführte Ernst hingegen und belegte seine Anwesenheit am Tatort zweifelsfrei. Hier war er von Anfang an geständig, präsentierte aber immer wieder neue Versionen der Tat. Die DNA-Spur am Messer, das in seinem Keller gefunden wurde und das als Tatwaffe für das erste Verbrechen infrage kommt, war zu undeutlich, um zu berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie von Ahmed I. stammen könnte. Der Sachverständige konnte immerhin feststellen, dass sich dieser als Spurenverursacher nicht ausschließen ließ. Ernsts Verteidigung legte eine Quittung über den Kauf eines Messers der gleichen Serie zwei Wochen nach der Tat vor, die das Gericht aus schwer nachvollziehbaren Gründen davon überzeugte, das Exemplar aus dem Keller sei erst Ende Januar gekauft worden. Eine genaue Analyse der Daten auf dem USB-Stick, auf dem die Quittung gefunden wurde, wurde abgelehnt.

Ernst bestritt den ganzen Prozess über, Ahmed I. angegriffen zu haben. Mehr noch, er beantwortete keine Fragen des Nebenklageanwalts Hoffmann. Während er sich auf den Fall Lübcke mehrfach tränen- und variantenreich einließ und Fragen der Familie beantwortete, schwieg er zu allen Fragen zum Messerangriff.

Schießtraining im Wald und halbherzige Ermittlungen


Sein Aussageverhalten beeinflusste sowohl die Ermittlungen als auch den Prozess massiv. Immer wieder gab er zu, was nicht zu leugnen war, passte seine Aussagen an, blieb einerseits vage, erzählte anderes dafür sehr detailliert. So verschob sich immer wieder die Aufmerksamkeit auf die Punkte, über die Ernst gerade sprach. Auch die Bundesanwaltschaft ließ sich zu Teilen sehr stark auf dieses Verhalten ein. So stützte sie viele Punkte der Anklage gegen den mutmaßlichen Beihelfer H. auf die Aussagen von Ernst, ohne dass weitere Beweise ermittelt wurden. Beispielsweise berichtete Ernst von Schießtrainings im Wald, bei denen man auch auf Zielscheiben mit dem Gesicht von Angela Merkel gefeuert habe. Die von ihm angegebenen Stellen wurden jedoch erst im Herbst 2020 untersucht, also mehr als ein Jahr nach der Festnahme. Die Polizei konnte keine Patronenhülsen oder sonstigen Spuren mehr finden. An wichtigen Punkten im Prozess konnte man den Eindruck gewinnen, die ermittelnde Behörde habe sich auf den Äußerungen von Ernst ausgeruht, anstatt deren Richtigkeit zu prüfen oder eigene Thesen zu bilden. Daneben waren die Angaben von Markus H.s ehemaliger Lebenspartnerin Lisa D. wichtig für die Anklage. Die Staatsanwaltschaft sah sich mit dem Problem konfrontiert, dass beide, Ernst und D., vor Gericht mehr als unglaubwürdig waren. D. stellte ihre zentrale Aussage, H. sei von den beiden der «Denker», Ernst der «Macher», als Missverständnis dar. Das habe sie so gemeint, dass Ernst etwas geschafft habe im Leben, während H. sich nicht auf einen festen Job und das Familienleben habe einlassen wollen. Die Belastungen, die D. vorgebracht hatte, wurden vom Gericht als haltlos bewertet.


Auch Ernsts Glaubwürdigkeit litt zunehmend im Verlauf des Prozesses, vor allem aufgrund der drei verschiedenen Versionen, die er nacheinander zum Besten gab. Sein erstes Geständnis legte er gut zwei Wochen nach seiner Festnahme ab. Er behauptete, die Tat allein begangen zu haben, gab sein Waffendepot preis und belastete seinen
langjährigen Weggefährten Markus H. sowie den Waffenhändler Elmar J. aus Borgentreich in Nordrhein-Westfalen als Unterstützer im Vorfeld. Beide wurden daraufhin festgenommen. Das Verfahren gegen Elmar J. wurde abgetrennt und der Haftbefehl gegen ihn aufgehoben, bisher ist kein Prozess terminiert (Tolvaj 2020). H. blieb in Untersuchungshaft, bis er nach einer Haftprüfung circa in der Mitte des Prozesses freigelassen wurde.

Nazianwälte und ein vermeintlicher Ausstieg?


Ernst wurde in der Untersuchungshaft von Dirk Waldschmidt, einem bekannten Anwalt der hessischen rechten Szene, aufgesucht. Waldschmidt sitzt aktuell selbst in Untersuchungshaft, seine Kanzlei wurde im Zuge der Razzia gegen die Naziorganisation Turonen durchsucht, die die Rechercheplattform EXIF dem Netzwerk von Combat 18 Deutschland zuordnet (EXIF 2018). Waldschmidt habe Ernst nahegelegt, nur sich selbst zu belasten. Ernst widerrief daraufhin sein Geständnis, wechselte seine anwaltliche Vertretung, gegen Waldschmidt wurde zeitweise wegen Strafvereitelung ermittelt. Zusammen mit Frank Hannig und Mustafa Kaplan präsentierte Ernst im Januar 2020 eine neue Tatversion, in der Markus H. mit am Tatort gewesen sein und auch geschossen haben soll. Der Schuss habe sich im Streit aus Versehen gelöst, man habe Lübcke lediglich einschüchtern wollen. Auch von diesem Geständnis nahm Ernst Abstand und entzog Hannig das Mandat, nachdem dieser vermeintlich nicht abgesprochen Beweisanträge gestellt hatte, die die Familie Lübcke mit Korruption in Verbindung bringen sollten. Schließlich sagte Ernst aus, er sei mit H. zusammen in Istha gewesen, habe aber selbst auf Walter Lübcke geschossen. Die Frage von Irmgard Braun-Lübcke, ob das Letzte, was ihr Mann vor seinem Tod gesehen habe, das Gesicht von H. gewesen sei, bejahte er. Ernst stellte sich als Opfer seiner Anwälte dar, die versucht hätten, ihn zu manipulieren. Waldschmidt habe ihm, ganz Szeneanwalt, im Gegenzug für die Schuldübernahme die Unterstützung der Naziorganisation Gefangenenhilfe versprochen. Hannig habe sich das zweite Geständnis ausgedacht, um den vor Gericht schweigenden H. zum Reden zu bewegen. Erst mit der Mandatsübernahme durch Mustafa Kaplan und dem neuen Verteidiger Jörg Hardies sei er bereit gewesen, die Wahrheit zu sagen. Die letzte von Ernst präsentierte Version bot ihm mindestens zwei Vorteile: Zum einen konnte er sich reumütig geben. Mehrfach versprach er der Familie auch nach dem Prozess, ihre Fragen zu beantworten, und entschuldigte sich in Tränen aufgelöst. Auch seine Teilnahme am Aussteigerprogramm IKARus wirkte so glaubwürdiger. Der andere Grund wurde im Plädoyer seines Anwalts Kaplan deutlich, der nur auf Totschlag plädierte, da Walter Lübcke durch den vorangegangenen Streit nicht mehr arglos gewesen sein soll.


Ausreichend Beweise, dass eine Version der Tat tatsächlich stimmt, gibt es nicht. So hielt der tote Walter Lübcke eine abgebrannte Zigarette in der Hand, was eher auf die erste Version hindeutet, dass er vom Schuss überrascht wurde. Es spricht aber auch einiges dafür, dass die Tat mindestens zu zweit geplant und ausgeführt wurde. Wenn Ernst sie allein begehen wollte, warum hatte er dann nicht aus sicherer Distanz mit einem ihm zur Verfügung stehenden Gewehr geschossen?


Aber ob H. der zweite Täter war oder ob es gar noch mehr Mitwisser*innen gab, konnte nicht belegt werden (vgl. Tolvaj 2020). Auch die Annahme einer psychischen Beihilfe wurde durch Ernsts wechselhafte und zögerliche Angaben zunehmend brüchig. Ernst hatte ausgesagt, 2009 aus der Szene ausgestiegen zu sein und sich erst nach dem Wiedertreffen mit H. in der Firma erneut radikalisiert zu haben. Dagegen spricht zum einen, dass er den Ausstieg gegenüber seiner Therapeutin, bei der Ernst damals wegen seiner Depressionen in Behandlung war, nicht erwähnt hatte. Zum anderen hatte er nachweislich weiter Kontakt zur Szene und nahm im Jahr 2011 an einer Sonnenwendfeier teil, die von der Szenegröße Thorsten Heise organisiert worden war. Das widerspricht seiner vorherigen Darstellung, er sei H. ideologisch gefolgt und habe sich mitreißen lassen. H. wurde freigesprochen und lediglich wegen der ihm zur Last gelegten Waffenverstöße verurteilt. Welche Rolle er beim Mord an Walter Lübcke spielte, ist bis heute ungeklärt.


Bereits bei seiner ersten Vernehmung deutete sich für aufmerksame Beobachter*innen Ernsts Qualität als Wendehals an. Er sagte unter Tränen, er habe seinen Kindern geraten, besser auf ihre Lehrer zu hören, als so zu werden wie er. Dabei hatte er seinen Sohn mindestens zu einer AfD-Demonstration mitgenommen und rechte Inhalte via Chat mit ihm ausgetauscht. Im Sommer 2020 wurde bekannt, dass der Militärische Abschirmdienst (MAD) aufgrund der rechten Gesinnung des Sohnes interveniert hatte, als dieser seinen freiwilligen Wehrdienst hatte antreten wollen (Der Spiegel 2020). Inwieweit er in das Denken und Handeln seines Vaters eingeweiht war, ist ungeklärt. Klar ist aber, dass Ernst entgegen seinen Angaben bestimmte ideologische Vorstellungen mit ihm geteilt hatte.


Kein Einzeltäter


Das geringe analytische Verständnis von rechtem Terror, mit dem die Ermittlungsbehörden und der Senat operierten, ist erschreckend. Begriffe wie «Ausstieg», «rechte Gesinnung» oder die Funktionsweisen der Szene wurden mit einem Alltagsverstand angegangen, den weder der aktuelle Stand der Forschung noch die gesellschaftliche Entwicklung nach dem NSU-Komplex tangierten. Es ist, als habe es keine Empfehlungen seitens der Untersuchungsausschüsse gegeben (Deutscher Bundestag 2017; Hessischer Landtag 2018). Asservate wurden nicht ausreichend gewürdigt oder im Prozess nicht besprochen, denn große Teile des Aktenmaterials waren ausschließlich im Selbstleseverfahren eingeführt worden. Das bedeutet, dass Material als in den öffentlichen Prozess eingeführt gilt und die Prozessbeteiligten sich darauf beziehen können, wenn sie es für ihre Argumentation und Beweisführung brauchen, setzt aber auch – wie sich hier zeigt, fälschlicherweise – voraus, dass alle Beteiligten das Wissen aus den Akten präsent haben. Es schien eher zufällig, was thematisiert wurde, abhängig davon, welcher Fakt einer Prozesspartei strategisch gerade wichtig war, und ohne erkennbares analytisches Verständnis von rechtem Terror. So wurde die Teilnahme von Ernst an besagter Sonnenwendfeier nicht etwa durch die Bundesanwaltschaft eingebracht, um tatsächlich Ernsts Szenenähe weiter zu prüfen, obwohl sich die Unterlagen im Aktenmaterial befinden. Vielmehr erfragte die Teilnahme H.s Verteidiger, Szeneanwalt Björn Clemens, erstmals öffentlich in der Vernehmung eines Polizeibeamten, da er das Interesse hatte, H.s Rolle als Ernsts Einflüsterer zu dekonstruieren, und deshalb nach bedeutenderen Szenepersonen suchte, zu denen Ernst Kontakt gehabt hatte. Sogar eine linke Broschüre über Heise wurde von H.s Verteidigung eingeführt.


Zum Vergleich: Im Prozess vor dem Oberlandesgericht Naumburg (in Magdeburg) wegen des Anschlags auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 waren zwei Sachverständige geladen worden, die über neue Formen rechten Terrors durch digitaleVernetzung referierten. In Frankfurt hingegen wurde über den Ablauf von Ausstiegsprozessen orakelt, als gäbe es keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse dazu.2 Auch die Bedeutung von Rassismus als gesellschaftliches Machtverhältnis wurde nicht im Ansatz begriffen. Besonders deutlich zeigte sich das an der Behandlung von Ahmed I. während seiner stundenlangen, quälenden Zeugenvernehmung im Prozess. Er hatte fünf Jahre auf die Gelegenheit gewartet, seine Geschichte zu erzählen. Was ihm passiert war, welche Vermutungen er hatte, welche Auswirkungen die Tat für ihn hatte und vor allem, wie sehr er unter der Behandlung der Polizei im Nachgang gelitten hatte. 3 Sein Anwalt Alexander Hoffmann fand in seinem Plädoyer klare Worte: «Es handelt sich um institutionellen Rassismus, nicht einen individuellen Rassismus der einzelnen Polizeibeamten, sondern einen Rassismus, der sich aus den jahrzehntelang eingeübten Arbeitsabläufen ergibt, den Täter- und Opferbildern, wie sie in Polizeibehörden, in der Ausbildung und in der Praxis verankert sind, den regelmäßig zugrunde gelegten Tathypothesen und ähnlichen die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich prägenden Elementen.» Statt dem Betroffenen des brutalen Mordversuchs Raum zu geben, unterbrach ihn der ungeduldig-herrische Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel und konfrontierte ihn mit der Skizze des Tatorts und mit Detailfragen. Sagebiel befragte Ahmed I. nach intimen gesundheitlichen Details der Folgeschäden, die er auch den Arztbriefen hätte entnehmen können. Er zeigte nicht das leiseste Gespür dafür, welche Bühne er an dieser Stelle für Naziideologie bot und welche Befriedigung es den anwesenden Rassist*innen bereiten könnte, so ausführlich über die Spätfolgen der schweren Verletzungen informiert zu werden, ganz zu schweigen von der würdelosen Art der Befragung. Dem Richter fiel noch nicht einmal auf, dass der Angeklagte H. hämisch grinsend in der ersten Reihe der Anklagebänke saß, und er wies ihn auch nur beiläufig zurecht, als es ihm von Nebenklagevertreter Matt und der Bundesanwaltschaft mitgeteilt wurde.

verschobenes Tätigkeitsfeld statt Ausstieg


Stephan Ernst ist weder jemals aus der Naziszene ausgestiegen, noch hat er sich «abgekühlt», wie es im Verfassungsschutz-Jargon heißt. Er hat nur sein Tätigkeitsfeld verschoben, so wie es viele Neonazis machen, wenn sie mit Ehepartner*innen und Kindern zu viel zu verlieren haben, um sich an Straf- und Gewalttaten zu beteiligen. Außerdem ist es in der extremen Rechten gang und gäbe, zunächst wilde Jahre des Aktivismus auszuleben und anschließend den «nationalen Kampf» über Kinder und Familie fortzuführen. Hinzu kommt noch ein weiterer wichtiger Faktor: Die extreme Rechte ist in ihren Organisations- und Gelegenheitsstrukturen einem ständigen Wandel unterworfen. Welche Strategien der extremen Rechten also erfolgversprechend sind, wandelt sich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Das mag einer Gesellschaft, die sich vor allem vom «Verfassungsschutz» darüber informieren lässt und die jeden Artikel über Neonazis seit 20 Jahren mit dem gleichen Paar Springerstiefel bebildert, möglicherweise entgangen sein. Aber in einem Gerichtsprozess, der über rechten Terror urteilen will, sollte doch zumindest ein grundsätzliches Verständnis der Materie geschaffen werden, schließlich gab es in den letzten zehn Jahren ausreichend Gelegenheiten, sich gerichtlich mit rechtem Terror auseinanderzusetzen. Die AfD ist unterdessen zum Auffangbecken für einen gehörigen Teil der organisierten Neonazis geworden und bietet eine «Alternative» vor allem zur am Boden liegenden NPD. Seit den 2000er-Jahren weiß ein weiter Teil der Zivilgesellschaft, dass «Nazis raus» gehören. Was nun aber, wenn die Grenzen zu anderen politischen Spektren weiter verschwimmen? Die Politik des faschistisch zu nennenden «Flügels» ermöglichte eine weite Öffnung und große Anschlussfähigkeit der AfD für den organisierten Neonazismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer vermeintlich harmlosen bürgerlichen Fassade. Dass diese Fassade lange Zeit unhinterfragt gewahrt werden konnte, lag nicht zuletzt an der ideologischen Nähe des ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen zu dieser Partei.


Stephan Ernst ist seit seiner frühesten Jugend ein höchst gewalttätiger Rassist. War er als Jugendlicher zwar noch nicht in der Szene organisiert, beging er trotzdem eigenständig schwere Straftaten. Er verübte Brandstiftung in einem «mehrheitlich von Türken bewohnten» Mehrfamilienhaus, jagte mit einer Rohrbombe ein Auto in direkter Nähe zu einer Geflüchtetenunterkunft in die Luft und stach einen türkischen Imam in der Toilette des Wiesbadener Hauptbahnhofs nieder (Tolvaj 2019). Nach einer sechsjährigen Haftstrafe organisierte sich Ernst dann in Kassel und wurde zusammen mit Markus H. in der dortigen Neonaziszene «ausgebildet». Beide haben sich mit Ideologie, Konzepten und Organisierung auseinandergesetzt. Sie haben konspiratives Verhalten und den Einsatz von Gewalt in einer Bewegung erlernt, die trotz Straftaten und massiver Bewaffnung kleingeredet und vom Geheimdienst in skandalös dubioser Weise mitfinanziert wurde. Sie verfügten damit über eine «Ausbildung», die es ihnen ermöglichte, die Gelegenheitsstrukturen der AfD zu nutzen und an der dort gebotenen Lebenswelt mit Demonstrationen, Wahlerfolgen, Propaganda und Stammtischen teilzuhaben. Als Höcke am 1. Mai 2018 auf einer Demonstration unter dem Motto «Unseren Sozialstaat verteidigen! Gegen massenhaften Clan-Nachzug – für ein sicheres und soziales Deutschland» in Erfurt sprach, machte er «die korrupte Politikerkaste» für die «massenhafte Zuwanderung» verantwortlich und äußerte dort die «Sorge um unsere Frauen und Töchter» (Höcke 2018). Die Menge antwortete ihm mit dem Ruf: «Volksverräter! Volksverräter!» Es war laut Anklage ebenjene Demonstration, zu der Ernst gemeinsam mit Markus H. und Alexander S. fuhr und seinen Sohn mitnahm. Stephan Ernst setzte die Forderung Höckes «Bis hierhin und nicht weiter!» mit seinen Mitteln in die Tat um, weil er dazu in der Lage war. Wie eng oder nah muss ein Mitwisser oder eine Anstifterin an der Tat sein, um dafür belangt werden zu können?

Die Botschaft des Urteils


Im Urteil von Ende Januar 2021 wird vor allem der wahrhaftig überholte Begriff «Ausländerfeindlichkeit» verwendet, als mache sich rassistische Gewalt an der Staatsbürgerschaft fest. Das zugrunde liegende Verständnis von Rassismus ist von erschütternder Dürftigkeit. Das Urteil liest sich, als habe Stephan Ernst keinen Einfluss auf die Entwicklung seiner Einstellungen gehabt, als sei er ein Opfer der Umstände. Seine menschenverachtende Weltsicht wird als Reaktion beschrieben auf etwas, was ihm durch seine Umwelt zugefügt worden sei. Seine «Ausländerfeindlichkeit» habe er zum einen entwickelt, weil er von seinen türkischen Mitschüler*innen aus der Parallelklasse gemobbt worden sei – er legte übrigens aus Rache im Alter von 15 Jahren im Keller des Mehrfamilienhauses Feuer, in dem einer der Mitschüler lebte –, zum anderen habe er seinem gewalttätigen Vater gefallen wollen und daher dessen Einstellung übernommen. Seinen Hass auf politische Gegner habe er durch (!) Auseinandersetzungen mit diesen entwickelt. Wenn wir also nur alle die Nazis in Ruhe ließen, dann würden sie sich selbst demokratisieren, anstatt Menschen zu erschießen und niederzustechen? Wenn der Täter seinerseits so sehr zum eigentlichen Opfer der Umstände gemacht wird, wo ist dann noch Platz für die tatsächlich Betroffenen?


Im Übrigen ist die Darstellung von Ernsts Kindheit und Jugend nie im Prozess überprüft worden. Wir kennen die Seite der «mobbenden türkischen Jungs» aus der Parallelklasse nicht, alles, was der Darstellung zugrunde liegt, ist die Erzählung eines mordenden Neonazis, der seit seiner frühesten Jugend den Umgang mit Gerichten, Institutionen und Psycholog*innen gewohnt ist und äußerst strategisch agiert. Ja, ein Gerichtsprozess hat seine Grenzen und dient dazu, die persönliche Schuld eines oder einer Angeklagten zu bewerten, nicht der gesamtgesellschaftlichen Weiterbildung. Und doch sendet dieses Urteil eine klare Botschaft: Auch wenn man einen Politiker in Deutschland ermordet, wird es keine Repression gegen eine Szene oder eine Organisierung geben, sondern ein Einzelner wird den Kopf hinhalten und der rassistische Mob kann weiter auf der Straße und in den Parlamenten hetzen und die Hetze salonfähig machen.


Schmerzlich und tödlich ist diese Botschaft erneut für alle Betroffenen rechter Gewalt und diejenigen, die es nicht einmal mehr bis nach Deutschland schaffen, weil sie im Mittelmeer ertrinken, in Kara Tepe kaserniert oder an der kroatischen Grenze zurückgeprügelt werden. Die «Mitte»-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2019 stellte fest, dass jede zweite befragte Person zur Abwertung von Asylsuchenden neigt (Zick u. a. 2019). Jede zweite Person, das bedeutet, es geht nicht um den rechten Rand, sondern betrifft die gesamte Gesellschaft. Diese Entwicklung kann nicht allein der AfD und den Neonazis angelastet werden. Sondern vor allem den bürgerlichen Parteien, die Lagerpolitik und Asylgesetze machen und mittragen, einem Innenminister, der sich 69 Abschiebungen zum 69. Geburtstag schenken lässt, und denjenigen, die ihn danach noch Minister sein lassen.

ein Plädoyer für Betroffene


Alexander Hoffmann resümiert in seinem Plädoyer: «Umso wichtiger wird es sein, dass Ahmed I. nunmehr direkte Unterstützung aus der Gesellschaft erhält. Unterstützung von denjenigen, die erkannt haben, dass rassistische Gewalt, rassistische Straftaten ihren Ursprung in der Mitte der Gesellschaft haben. Von denjenigen, die erkannt haben, dass die bloße Aburteilung von Straftaten keine gesellschaftliche Wirkung hat, sondern die direkte Solidarität mit Opfern rassistischer Gewalt notwendig ist. Rassismus und nazistische Ideologie werden nicht durch Gerichtsurteile bekämpft, diese Auseinandersetzung findet nicht im Gerichtssaal statt. Ich fordere daher alle Menschen auf, ihre Solidarität und Verbundenheit mit Betroffenen rassistischer Gewalt zu zeigen und Herrn Ahmed I. weiterhin zu unterstützen.»

1 Zum Beispiel handelt es sich nur bei einem Fünftel der angezeigten Vergewaltigungen um den plötzlichen Überfall eines Unbekannten (vgl. Britzelmeier 2016)

2 Zu empfehlen an dieser Stelle: Schwerpunkt «Drinnen» oder «Draußen»? Der Mythos Ausstieg aus der extremen Rechten, in: LOTTA (2013) sowie Sigl (2018).

3 Eine ausführliche Darstellung von Ahmed I. persönlich sowie eine Einordnung seines Anwalts Alexander Hoffmann gab es auf der Pressekonferenz im Anschluss an seine Aussage (Bildungsstätte Anne Frank 2020).

Sonja Brasch ist freie Journalistin und politische Bildnerin. Sie ist bei NSU-Watch Hessen aktiv und arbeitet zu extrem rechten Strukturen und rechtem Terror in Hessen. Texte von ihr finden sich u. a. bei NSU-Watch und in der Lotta – antifaschistische Zeitschrift für NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen.