Das Mehr-Grau Kollektiv, welches sich aus antifaschistischer Perspektive mit linken und feministischen Debatten auseinandersetzt, ist derzeit im Schwerpunkt mit Frauen und Knast beschäftigt. Dazu teilen wir den Text des Kollektivs, welcher Helga Einsele, die in Frankfurt als Haftanstaltsleitung der JVA Preungesheim tätig war, porträtiert. Auf dem Blog des Kollektivs findet ihr weitere spannende Texte, etwa zu Konsens.

Wir wurden eingeladen ein Interview über die Arbeit von Helga Einsele zu geben, im Rahmen unserer aktueller Arbeit zu Frauen und Knast. Hier haben wir euch die Informationen über ihr Leben und Schaffen über das wir in dem Interview berichtet haben einmal zusammengeschrieben:

Helga Einsele wurde am 9. Juni 1910 in Dölau bei Halle an der Saale geboren und starb am 13. Februar 2005 in Frankfurt am Main. Sie war eine deutsche Kriminologin, Gefängnisdirektorin und Strafrechtsreformatorin. Ihr berufliches Wirken war geprägt durch ihren Einsatz für eine Humanisierung des Strafvollzugs und die Würde der Gefangenen. Sie selbst bezeichnete ihre Arbeit dort als den „pragmatischen Versuch, mit den Mitteln des Normalvollzugs, jedoch mit ernsthafter Zuwendung zu seinen Menschen, die Misere des Strafvollzugs zu vermindern und etwas zu finden, was vielleicht besser ist.“[1]

Leben:

Einsele stammte aus einem liberalen Elternhaus – ihr Vater war Gymnasialdirektor und wurde später von den Nationalsozialisten aus dem Amt entfernt – und wuchs als älteste von zwei Töchtern in Lüneburg auf. Sie studierte Rechtswissenschaften bei Gustav Radbruch in Heidelberg.

Unter dem Einfluss ihres Lehrers Radbruch näherte sich Einsele bereits 1930 den sozialistischen Studentengruppen an. Später trat sie in die SPD ein. Sie wurde Mitorganisatorin zahlreicher antifaschistischer Kundgebungen und kandidierte schließlich bei der Wahl zum Allgemeinen Studierendenausschuss gegen den späteren NS-Reichsstudentenführer Gustav-Adolf Scheel. Obwohl sie ihr erstes Staatsexamen 1935 mit Prädikat abschloss, wurde sie wegen politischer Unzuverlässigkeit nicht in den juristischen Vorbereitungsdienst aufgenommen. Ihr wurde somit ein Berufsverbot ausgesprochen. Später arbeitete sie mit dem Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer in den Auschwitz-Prozessen zusammen.

1947 ernannte der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn sie zur Leiterin der hessischen Frauenvollzugsanstalt in Frankfurt-Preungesheim, eine Position, die sie bis 1975 innehatte. Während dieser Zeit setzte sie zahlreiche Reformen durch: So führte sie als Erste ein Mutter-und-Kind-Haus in einem deutschen Gefängnis ein und begann einen Modellversuch, in dem weibliche Strafgefangene ihre Babys und Kleinkinder nicht mehr automatisch in ein Heim abgeben mussten. Die Gefangenen wurden von den Beamten nicht mehr geduzt, durften normale Kleidung tragen und jede von ihnen wurde durch eine Sozialarbeiterin betreut. Zu Einseles Zeit lag die Rückfallquote in ihrem Gefängnis deutlich niedriger als anderswo.

1969 war sie die erste Preisträgerin des neu gestifteten Fritz-Bauer-Preises der Humanistischen Union. Für ihre Bestrebungen um einen humanen Strafvollzug erhielt sie zahlreiche weitere Auszeichnungen.

Nach ihrer Pensionierung im Jahr 1975 war sie Honorarprofessorin für Kriminologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Daneben war sie ihr Leben lang aktivistisch unterwegs: Einsele protestierte in den 1960er Jahren beispielsweise gegen den Ausschluss des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds aus der SPD und wurde dafür selbst aus der Partei ausgeschlossen. Anfang der 1980er Jahre beteiligte sie sich im Rahmen der Friedensbewegung am Widerstand gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen auf der Mutlanger Heide und nahm dafür auch eine gerichtliche Verurteilung wegen Nötigung in Kauf. Zudem demonstrierte sie gegen den Paragrafen 218, der Abtreibung unter Strafe stellt.

Sie hat mehrere Bücher geschrieben, darunter eine Autobiografie mit dem Titel „Mein Leben mit Frauen in Haft“.

Studium und politische Einflüsse:

Sie ist in einem eher liberalen Umfeld aufgewachsen und schloss sich während ihres Jura-Studiums in Heidelberg – nach „Überwindung bürgerlicher Skrupel“, wie sie selbst sagt – bald sozialistischen Studentengruppen an. Ihr Examen absolvierte sie bei dem sozialdemokratischen Strafrechtler und Rechtspolitiker Gustav Radbruch, dessen Engagement für die politischen und sozialen Probleme des Rechts sie tief beeindruckte. Von ihm bezog sie auch die Überzeugung, dass eine Reform des Strafvollzugs nicht ausreiche, sondern dass ein anderer Umgang mit Gesetzesverstößen notwendig sei. Solche Überlegungen müssen damals, lange vor der Reform der Strafanstalten, den Bemühungen um eine demokratische Kontrolle der Gefängnisse und der Ausrufung des Resozialisierungsziels, wie eine ferne Utopie geklungen haben. Als Radbruchs Schülerin war sie eine entschiedene Gegnerin der Todesstrafe und später der lebenslangen Freiheitsstrafe. Sie galt als die konsequenteste und wirkungsvollste Schülerin Gustav Radbruchs. Ihr wurde zugeschrieben, „mutig und kompromisslos die Wahrheit auszusprechen” und von einer „Tiefe und Radikalität einer unbeirrbaren politischen Ethik” geprägt zu sein.

Exkurs: Gustav Radbruch

Radbruch war von 1920 bis 1924 für die SPD Abgeordneter des Reichstags und christlich geprägt. Ein von ihm und 54 weiteren Mitgliedern der SPD-Fraktion am 31. Juli 1920 im Reichstag eingebrachter Antrag sah die Straflosigkeit der Abtreibung vor, wenn sie innerhalb der ersten drei Monate durch einen Arzt durchgeführt wurde. Er sprach sich, wie bereits erwähnt, gegen die Todesstrafe und das Zuchthaus aus. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde Radbruch am 8. Mai 1933 als erster deutscher Professor nicht aus rassistischen, sondern aus politischen Gründen aus dem Staatsdienst entlassen.

Interessanterweise war Radbruch – trotz seiner Gegnerschaft zum NS-Regime – Mitglied des im Frühjahr 1949 gegründeten Heidelberger Juristenkreises. Dieser setzte sich für die Freilassung und Rehabilitierung deutscher Verurteilter aus den Kriegsverbrecher- und NS-Prozessen ein. Er engagierte sich dafür, dass die Todesstrafe nicht bei NS-Verbrechern angewendet wird.

Ihr Wirken

Als sie ihre Tätigkeit als Leiterin der Frauenhaftanstalt Frankfurt-Preungesheim aufnahm, setzte Einsele zunächst durch, dass die Zellen mit zeitgemäßen, hygienischen Einrichtungen ausgestattet wurden. Sie führte Therapie- und Selbsthilfegruppen im Gefängnis ein, lange bevor diese anerkannt wurden. Außerdem sorgte sie dafür, dass die Beamten die Gefangenen nicht duzten und die Frauen einheitliche und später normale Kleidung trugen. Die Uniformierung der Gefängnismitarbeiter löste sie auf unkonventionelle Weise auf. Eine weitere Errungenschaft war, dass jede Strafgefangene eine zuständige Sozialarbeiterin erhielt. Nach dem Vorbild der prison visitors in England kamen bereits 1948 die ersten ehrenamtlichen Helfer in die Frauenhaftanstalt. Zunächst waren diese Besuche auf alleinstehende Frauen beschränkt. Ab 1950 wirkten die ehrenamtlichen Helfer auch bei Bildungs- und Gruppenarbeit mit.

Der wichtigste Bestandteil ihrer Reformen war die Einführung eines institutionalisierten Mutter-Kind-Hauses, durch das verhindert wurde, dass Kleinkinder und eingesperrte Mütter voneinander getrennt wurden. Es war das erste Haus seiner Art in der Bundesrepublik und wurde mit Unterstützung einer Bürgerinitiative und unter der Schirmherrschaft von Hilda Heinemann, der Frau des damaligen Bundespräsidenten, eröffnet. Für Einsele gehörte der Gedanke, dass „kleine Kinder nicht durch die Haft von ihren Müttern getrennt werden”, zum Leitbild eines humanen und liberalen Strafvollzugs.

Einsele etablierte den Strafvollzug der positiven Zuwendung. Dabei ging es ihr vor allem auch um die Konfrontation mit Konflikten und die Aufarbeitung des Geschehenen. Eine Inhaftierte sagte dazu: „Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben ernst genommen.“ Eine andere Frau schrieb ihr noch 22 Jahre nach ihrer Entlassung: „Das Gefängnis war das Haus, in dem Gefangene erstmals Zuwendung fanden, so paradox das klingen mag.“

Wo immer es möglich war, bezog sie die Gefangenen in die Entscheidungen des Haftalltags ein und praktizierte Formen der Mitbestimmung, bevor diese als Insassenvertretungen oder Vollzugsbeiräte institutionalisiert wurden.

Um den Gefangenen den Bezug zum Leben außerhalb der Anstalt zu ermöglichen, unternahm Einsele mit zu lebenslänglich verurteilten Frauen Ausflüge in den Taunus und verabschiedete sie zu einem Waldspaziergang. Auf den Gedanken, dass eine der Frauen weglaufen könnte, sei weder sie noch eine der Frauen gekommen. Für Einsele war dies eine Selbstverständlichkeit, um dem körperlichen und seelischen Verfall vorzubeugen und den Realitätsverlust zu vermeiden, den 15, 20 und mehr Jahre Haft mit sich brächten.

Seit 1956 wurden Gefangene in handwerklichen und kaufmännischen Berufen ausgebildet und konnten entsprechende Abschlussprüfungen vor den jeweiligen Kammern ablegen. 1959 wurde die Lehrküche eingerichtet. Einsele befürwortete eine „Resozialisierung durch Lernen”. Zusammen mit Ulla Illing begann er 1974 in der Frauenhaftanstalt mit einem vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft in Auftrag gegebenen und finanzierten „Modell zur Sozialen Rehabilitation und Berufsausbildung weiblicher Strafgefangener”. Das Ziel bestand darin, die Chancen einer gesellschaftlichen Integration für die Gefangenen nach der Entlassung zu erhöhen. Aufgrund seines Erfolges wurde der Versuch nach Einseles Pensionierung vom Hessischen Ministerium der Justiz weitergeführt.

„Uns schien am wichtigsten, den Frauen ein Selbstwertgefühl zu vermitteln“, kommentierte Helga Einsele ihre Arbeit. „Das ist natürlich außerordentlich schwierig, weil ja alles, was eine Strafanstalt bietet, Repression, Unterdrückung, Demütigung und Einschränkung bedeutet.“[2]

Einsele führte ebenfalls Schulungskurse für das Gefängnispersonal ein. Sie holte kulturelle Veranstaltungen wie Theater und Konzerte ins Gefängnis. Zur Förderung des Gemeinschaftsgedankens der Gefangenen sorgte sie 1961 dafür, dass eine Hauszeitung herausgegeben wurde. Ab 1968 wurden zudem Sprecherinnen aus dem Kreis der Gefangenen gewählt. Nach ihrer Pensionierung konnte sie ihre Idee einer „Auffangstation” für ratsuchende Entlassene verwirklichen.

Einsele selbst sah ihren Platz weniger in der wissenschaftlichen Tätigkeit als an der Grenze zwischen Theorie und Praxis, nämlich in der Überprüfung von Theorien in der Praxis. Der Auftrag des Bundesfamilienministeriums zur wissenschaftlichen Begleitung des Projekts „Anlaufstelle für straffällig gewordene Frauen“ und der Nachsorge für Haftentlassene gab ihr die Gelegenheit, die Praxis durch theoretische Begleitung zu fördern. Nach Ablauf des Projekts wurde dies in Hessen zur Regeleinrichtung.

Die im Jahr 2000 gegründete Bundesarbeitsgemeinschaft Frauenvollzug wurde in „Dr. Helga Einsele e. V.” umbenannt und hat sich zum Ziel gesetzt, die Belange inhaftierter Frauen zu vertreten, Behandlungs- und Betreuungskonzepte zu entwickeln und ambulante Hilfen für straffällige Frauen zu schaffen.

Ihre Einstellung zum (Frauen-)vollzug:

Helga Einsele formulierte es einmal so: „Da Frauen in den wenigsten Fällen eine wirkliche Gefahr für die Allgemeinheit darstellen, wäre ein Verzicht auf den Vollzug der Freiheitsstrafe sozial verantwortbar.“[3]

Was interessanterweise heute auch noch von Studien gedeckt ist: Es sind heute ca. 2.600 Frauen in Deutschland inhaftiert, das sind 5 % aller Gefangenen. Die meisten von ihnen haben Eigentumsdelikte wie Diebstahl begangen. Man geht also von 300 Frauen aus, die „sozialschädliche”, also gewalttätige Straftaten begangen haben. Bei diesen wiederum kam das Opfer in vier von fünf Fällen aus dem engeren Familienkreis und es war fast immer eine jahrelange Leidenssituation vorausgegangen. Oft geht es also um Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind und sich schließlich mit Gewalt gewehrt haben. Wenn man also von der Prämisse ausgeht, dass Gefängnisse den Zweck haben sollen, die Gesellschaft vor Verbrecherinnen zu schützen, dann geht es derzeit um gerade einmal sechzig Frauen in Deutschland.

Sie setzt sich gegen die lebenslange Freiheitsstrafe, „die Todesstrafe auf Raten“, ein.

Und jetzt?

Einsele hat sich aktiv für die Verbesserung der Lebenssituation von Gefangen Frauen eingesetzt. Von einer militärisch organisierten Frauenhaftanstalt zu einer in der die dort lebenden Frauen mit respekt behandelt wurden und ehrliche Chancen hatten nach dem Knastaufenthalt. Sie schließt selber ihre Autobiografie mit: „Trotz aller berechtigten Zweifel an wirklichen Erfolgen möchte ich zum Schluss noch sagen, ich bereue dieses Leben nicht“.[4]

Wenn man sich mit Frauen und Knast auseinandersetzt, sollte man sich auch mit den Personen auseinandersetzen, die versucht haben die Situation von Frauen in Gefängnissen nachhaltig zu verbessern. Und das ist Helga Einsele gelungen, viele Maßnahmen, die zu ihrer Zeit neu oder innovativ waren, sind heute Standard.

Quellen:

„Mein Leben mit Frauen in Haft“ von Helga Einsele, 1995.

„»Anzustreben ist nicht ein besserer Strafvollzug, sondern etwas, das besser ist als Strafvollzug.« Zum Tod von Helga Einsele“ von Sven Lüders, 2005.

„Helga Einsele und ihre kriminalpolitischen Wirkungen in der Öffentlichkeit“ von Bernd Maelicke, 2005.

„Das Portrait: Helga Einsele“, taz archiv-artikel, 1993.

Wikipedia.de

„STANDPUNKT: Schwimmen gegen den Strom Helga Einsele zum 90. Geburtstag“ in Neue Kriminalpolitik von Bernd Maelicke, 2000.

„Frauen im Strafvollzug“ von Helga Einsele/Gisela Rothe, 1985.

„Frauen Unterwegs“ von.Antje Schrupp, 2003.


[1] Einsele: Mein Leben mit Frauen in Haft, Quell-Verlag, Stuttgart 1995.

[2] ebd.

[3] ebd.

[4] ebd.