Wir hatten auf antifa-frankfurt.org bereits folgende Rezension veröffentlcht, nun könnt ihr euch ein eigenes Bild verschaffen.

Ein Mensch ist gestorben. Im Dezember 2017. Er ist nicht bloß gestorben, er hat sich das Leben genommen. In Moçambique. Ricardo, ein Schwarzer in Dresden geborener Deutscher, war auf der Flucht vor der deutschen Justiz, die ihn in den Knast stecken wollte, als seine Kraft nach Jahren im Exil nicht mehr ausreichte und er sich das Leben nahm.

Vor kurzem erschien im Immergrün-Verlag das rund 220 Seiten starke Ergebnis einer instensiven Aufarbeitungs- und Auseinandersetzungsarbeit von Menschen welche Ricardo kannten, ihm teilweise sehr nahe standen. Einerseits handelt es sich um den Versuch, den Tod von Ricardo, der sich nach rund drei Jahren im Exil umgebracht hatte, zu verarbeiten: sich gemeinsam zu finden, zu stärken, zu trauern, zu weinen, aber auch um gemeinsam zu lachen und zu erinnern.

Zu anderen ist es erklärtes Ziel des HerausgeberInnen-Kollektivs, ihre Erfahrungen, Perspektiven und Erlebnisse zu teilen, um Diskussionen rund um die Bereiche Flucht, Exil und Illegalität anzustoßen.

In ihrem Vorwurf führt das Kollektiv in das anfängliche Gefühlschaos ein, nachdem die Nachricht vom Suizid Ricardos in Deutschland angekommen war. Und wie hieraus dann nach und nach die Idee entstand, sich nicht in die Vereinzelung zurück zu ziehen, wo jede und jeder selbst versucht mit Gefühlen der Leere, von Wut und Verzweiflung zurecht zu kommen, sondern wie man als Kollektiv Flucht, Exil und Tod Ricardos politisch kontextualisieren könnte. Um Diskussionen zu ermöglichen, um sich gegenseititg Halt zu geben und auch um das Andenken an Ricardo lebendig zu halten.

Es sind drei große Kapitel aus welchen das Buch besteht. Unter den Kapitelüberschriften Flucht, Exil und schließlich Illegalität werden wir nicht nur durch das aktivistische Leben eines 1986 in Dresden geborenen Schwarzen in Deutschland zur Wendezeit geführt, wir erfahren auch aus erster Hand wie hochpolitisch die 90’er waren, geprägt von der permanenten Konfrontation mit Neonazis und den staatlichen Repressionsbehörden. Auch wird durch die Schilderung von Ricardos politischem Aktivismus Zeitgeschichte ganz konkret fassbar gemacht und miterlebbar. In der Buchmitte finden sich zudem einige Fotos welche u.a. Ricardo gemacht hatte.

Im Anfangskapitel “Flucht” bekommen die Lesenden auch eine knappe Einführung in die Geschichte und Gegenward Moçambiques, geprägt von Kolonialismus und Unterdrückung, welche bis heute fortwirken.

Auf fast 40 Seiten finden sich e-mails von Ricardo, geschrieben im Exil Moçambiques, bis kurz vor seinem Tod. Sie sprühen an vielen Stellen vor Lebensenergie und Kraft, obwohl er in einem Land lebte in welchem er selbst zu den Illegalen zählte, jederzeit eine Polizeikontrolle und Inhaftierung füchtend, und an anderen Stelllen springt einen zugleich vorhandene Verzweiflung geradezu an.

Beschrieben wird zudem die Reise von einigen Menschen nach Moçambique, als sie erfuhren, dass Ricardo gestorben war und wie sie versuchen vor Ort mehr über den Alltag, das Leben und den Tod Ricardos in Erfahrung zu bringen.

Das Kapitel “Exil” findet sich ein lebenspraktisches Fragegespräch mit einem Anwalt rund um die rechtlichen Fragen von Flucht, Exil, Illegalität, insbesondere auch Antworten gebend welche Möglichkeiten Unterstützende haben, welche rechtlichen Fallstricke es zu beachten gibt. Vor allem geht es jedoch um die ganz praktischen Erfahrungen mit der Solidarität in der Zeit des Exils von Ricardo. Wie gestalteten sich die Kommunikation, die emotionale Unterstützung, finanzieller Support, rechtliche Beratung und auch die so wichtige politische Verantwortung: denn was bedeutet es, wenn ein Konzept gelebter Solidarität fehlt?

Was das Buch aus meiner Sicht so wertvoll macht, ist sein kollektiver Hintergrund. Denn auch wenn Anlass für das Buch der Tod eines vertrauten Menschen war, ordnet diesen das AutorInnen-Kollektiv in den größeren politischen Zusammenhang von Aktivismus, gelebtem Anarchismus, gelebter Gemeinschaft und Solidarität in einem Klima des täglichen Kampfes gegen faschistische Angriffe, gegen staatliche Repression, ein.

Im Schlusskapitel, “Illegalität” sind vier sehr spannende Interviews abgedruckt. Zum einen mit einem Menschen der die Erfahrungen teilt die gewonnen wurden, als es galt, einer flüchtenden Person Unterstützung zu gewähren, welche emotionalen und menschlichen Herausforderungen das gerade auch für unterstützende Beteiligte bedeutet.

In den weiteren Interviews berichtet Margit Schiller, verurteilt wegen Mitgliedschaft in der RAF, wie sie 1985 nach Kuba ins Exil ging, gehen musste (um so einer erneuten Verhaftung und auch möglichen Verurteilung zu entgehen). Dann folgt ein Gespräch mit Thomas und Bernd vom K.O.M.I.T.E.E. die seit 27 Jahren auf der Flucht vor der deutschen Strafjustiz nunmehr legalisiert in Venezuela leben; nach dem Interview, im Mai 2021 ist Bernd gestorben. Im vierten und letzten Interview gibt ein ehemaliges Mitglied der ETA über das Leben in der Illegalität, auf der Flucht vor der Justiz und welche Härten, aber auch Möglichkeiten dies mit sich bringt.

Das Buch sollte nicht nur in jeder linken Buchhandlung stehen sondern vor allem viel gelesen werden, denn die Repressionsspirale dreht sich immer weiter, und es wird immer Menschen geben die in die Illegalität getrieben werden, gehen müssen. Was dann? Wie geht das Umfeld damit um? Hier bietet das Buch “Ich vermisse euch wie Sau” einen aktuellen, vor allem authentischen und auch sehr selbstkritischen Einblick. Aber genauso auch Hilfestellung.

Bibliografische Angaben:

Herausgeberkollektiv gata preta

Titel: “Ich vermisse Euch wie Sau”
Verlag: Immergrün (https://www.immergruen.cc)
ISBN: 978-3-910281-02-8

Preis: 12 Euro

Rezensent:
Thomas Meyer-Falk, z.T. Justizvollzugsanstalt (SV);
Hermann-Herder-Str. 8, 79104 Freiburg
https://freedomvorthomas.wordpress.com
http://www.freedom-for-thomas.de