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In Wiesbaden haben Betroffene Machtmissbrauch und Gewalt benannt – doch statt Solidarität erleben sie Druck, Diffamierung und Täter-Opfer-Umkehr. Der AKU Wiesbaden fordert „Selbstkritik“, relativiert Gewalt und sichert sich die Deutungshoheit. Unter dem Vorwand von „guter Kommunikation“ und neuen Gremien wird Täter*innenschutz institutionalisiert, während Betroffene die Szene verlassen.

Wie linke Strukturen Betroffene zum Schweigen bringen und Täter schützen

Machtmissbrauch benennen – Strukturen in Wiesbaden versagen beim Schutz von Betroffenen


Seit Anfang Juli brodelt es in der Wiesbadener linken Szene. Anlass war die Entscheidung einer Gruppe von Betroffenen, das Verhalten einer Person öffentlich zu benennen, die über ca. 2 Jahre hinweg durch Machtmissbrauch, Grenzverletzungen und Gewalt aufgefallen war. Konsequenz dieser Entscheidung: dem Täter wurden seine administrativen Rechte entzogen.

Doch was danach geschah, zeigt in erschreckender Deutlichkeit, wie tief verankert die Probleme in unseren Strukturen liegen, und wie Betroffene auch heute noch systematisch unsichtbar gemacht, unter Druck gesetzt und in die Defensive gedrängt werden.

Angriff statt Solidarität


Anstatt die Betroffenen in den Vordergrund zu stellen und ihre Erfahrungen ernst zu nehmen, wurden unmittelbar nach der Veröffentlichung eines Infotextes massive Anfeindungen laut – sowohl gegen die Betroffenen selbst als auch gegen diejenigen, die den Text formuliert und verbreitet hatten.

Immer wieder wurde gefordert, Betroffene sollten „aus der Anonymität treten“ und „ihr Gesicht zeigen“. Mit anderen Worten: Menschen, die sich bewusst für Schutz und Anonymität entschieden hatten, wurden aufgefordert, diesen Schutz aufzugeben. Das bedeutet nichts anderes als Druck, Einschüchterung und Delegitimierung.

Auch als einige Betroffene öffentlich schilderten, wie sie unter psychischem Druck, Panikattacken oder physischen Übergriffen litten, verschob sich die Diskussion. Statt über Schutz zu sprechen, hieß es plötzlich, der Täter sei „zu hart“ behandelt worden oder man dürfe „so etwas nicht einfach öffentlich machen“.

Gesprächskultur voller Drohungen und Relativierungen


Ein besonders drastisches Beispiel für den unsolidarischen Umgang lieferte das erste Gespräch nach dem öffentlichen Outcall, bei dem auch Vertreter*innen des AKU Wiesbaden anwesend waren. Statt die Betroffenen ernst zu nehmen, wurde dort seitens AKU betont, man werde sich „so etwas nicht gefallen lassen“ und „andere Seiten aufziehen“ sollte ein weiterer Outcall in dieser Form stattfinden. Damit wurde eine klare Drohung formuliert – nicht gegenüber dem Täter, sondern gegenüber Betroffenen.

Noch verstörender: Aussagen wie „das ist in der Geschichte schon einmal passiert und wir wissen alle, wohin das geführt hat“ relativieren nicht nur den Nationalsozialismus, sie verkehren die Realität ins Gegenteil. Plötzlich erscheinen diejenigen, die Gewalt benennen, als Gefahr während die Gewalt selbst in den Hintergrund rückt.

Druck durch Forderung nach „Selbstkritik“


Statt solidarischer Unterstützung verlangte der AKU Wiesbaden von den Menschen, die den Infotext veröffentlicht hatten, eine öffentliche „selbstkritische Stellungnahme“. Die Begründung: Durch den Text sei „ein Vertrauensverlust“ entstanden.

Eine solche Forderung ist nichts anderes als institutionalisierter Druck und Täter-Opfer-Umkehr. Wer Gewalt benennt, soll sich rechtfertigen – während die Gewalt selbst und die Machtstrukturen, die sie ermöglicht haben, kaum thematisiert werden.

Besonders bezeichnend: Der AKU hat eine ausführliche Stellungnahme erhalten. In späteren Gesprächen behaupteten Vertreter*innen jedoch, keine bekommen zu haben – abgesehen von einer kurzen Erklärung in öffentlichen Gruppen.
Dieses Verhalten zeigt, wie inkonsequent und intransparent hier agiert wird: Von anderen wird Offenheit und „Spielen mit offenen Karten“ eingefordert, während man selbst nicht einmal zu einer ehrlichen Kommunikation in der Lage ist.

Die Gruppe der Betroffenen lehnte die Forderung ab und machte klar: Die Verantwortung für die Aufarbeitung liegt nicht bei ihnen, sondern bei den Strukturen, die den Täter geschützt haben. Außerdem müsse gemeinsam entschieden werden, wie weiter vorgegangen wird, sodass sich alle Involvierten gut fühlen und die Verantwortung für die Aufarbeitung von allen getragen werden kann.

Deutungshoheit statt Aufarbeitung


Besonders deutlich wurde das Missverhältnis, als sich der AKU eigenmächtig „der Sache annahm“ – entgegen der ursprünglichen Vereinbarung, dass die Betroffenen weitere Treffen organisieren sollten.

Einzelgespräche wurden mit dem Täter geführt, aber nicht mit den Betroffenen. Aussagen wie „man habe mit dem Täter gesprochen und da sei klar geworden, dass es weniger schlimm war, als behauptet“ zeigen, wie krass Betroffene hier delegitimiert wurden.

Hinzu kam die Aussage einer Person, die sich immer wieder auf ihre jahrzehntelange psychotherapeutische Erfahrung berief: Begriffe wie „Täter“ und „Opfer“ würden heute „inflationär genutzt“. Damit wird das zentrale Problem erneut verschoben – weg von den dokumentierten Taten, hin zu einem Diskurs, in dem plötzlich Außenstehende, meist ältere weiße Cis-Männer, bestimmen wollen, ab wann Gewalt überhaupt als solche zählt.

Relativierungen, Kommunikationskeule und Rückzug von Betroffenen


Ein weiteres Muster der vergangenen Wochen ist der Versuch, die Situation mit anderen Vorfällen aus der Szene gleichzusetzen. Dabei wird ignoriert, dass es sich hier um ein Verhalten handelt, das sich über Jahre hinweg wiederholt und in zahlreichen Gesprächen mit dem Täter selbst thematisiert wurde – ohne dass sich etwas änderte. Die Gleichsetzung mit völlig anders gelagerten Fällen ist daher keine „Einordnung“, sondern eine Verdrehung von Tatsachen.

Besonders bitter: Ausgerechnet Personen, die selbst immer wieder durch schlechte und konfliktverschärfende Kommunikation in anderen Gruppenkonstellationen aufgefallen sind, inszenieren sich nun als Expert*innen für „gute Kommunikation“. Plötzlich wird offene und klare Kommunikation von den Menschen gefordert, die sich aus der politischen Szene zurückziehen wollten und selbst nicht in der Lage sind, sachlich und gewaltarm miteinander zu kommunizieren.
Mit dem Hinweis auf angeblich „unsachliche Sprache“ oder „falsche Tonlagen“ wird von den eigentlichen Gewaltvorwürfen abgelenkt. So wird ein Machtinstrument geschaffen, das Betroffene erneut delegitimiert, anstatt ihnen zuzuhören.

Für einige Betroffene war die ständige Relativierung, das Kleinmachen und die Diffamierung so belastend, dass sie die Szene inzwischen verlassen haben. Anstatt Strukturen zu schaffen, die Schutz bieten, wird der Druck auf diejenigen erhöht, die Gewalt erfahren haben. Unter dem Deckmantel einer angeblichen „neuen Konfliktkultur“ wird Täterschutz reproduziert – und Betroffene verlieren ihren Raum.

Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang auch das geplante „szenenübergreifende Gremium“, das angeblich für ganz Wiesbaden gelten soll. Offiziell sind zwar alle Gruppen und Kollektive eingeladen, sich am Aufbau dieser Struktur zu beteiligen. Doch selbst wenn sich einzelne Strukturen dagegen entscheiden, soll das Gremium trotzdem auch für sie verbindlich sein – ob sie es möchten oder nicht.
Damit wird ein autoritäres Instrument etabliert, das nicht von allen gewollt ist und in der Praxis Betroffenenrechte weiter beschneiden könnte. Weder haben alle Kollektive ein solches Gremium gefordert, noch erhalten sie ein echtes Mitspracherecht. Die Entscheidung darüber fiel erneut durch den AKU – ohne vorherige Rücksprache mit Betroffenen.

Strukturelles Problem: Schweigen, Relativieren, Macht sichern


Die bisherigen Abläufe zeigen ein klares Muster:
• Gewalt und Machtmissbrauch werden zwar in Einzelfällen benannt, aber nicht kollektiv aufgearbeitet.
• Der Fokus verschiebt sich schnell weg von den Betroffenen hin zu „Prozessen“, „Formfragen“ oder „Tonalität“.
• Betroffene werden unter Druck gesetzt, ihr Schweigen zu brechen oder Selbstkritik zu üben.
• Täter werden in Einzelgesprächen geschützt und relativiert.
• Strukturen wie der AKU sichern sich selbst die Deutungshoheit, statt Abmachungen einzuhalten.

Das Ergebnis: Diejenigen, die Gewalt benennen, werden isoliert und entwertet – während die bestehenden Machtverhältnisse stabil bleiben.

Schlussfolgerung


Es ist zweitrangig, ob jede einzelne Tat bis ins letzte Detail dokumentiert und bewiesen wird. Entscheidend ist: Es gibt eine Vielzahl übereinstimmender Schilderungen von Betroffenen, die psychische und physische Gewalt, Machtmissbrauch und Grenzverletzungen beschreiben. Und es gibt eine Szene, die es bislang nicht geschafft hat, angemessen damit umzugehen.

Die Diskussion über Form, Ton und Zeitpunkt verdeckt das eigentliche Problem: Strukturen, die sich selbst als „solidarisch“ und „emanzipatorisch“ verstehen, reproduzieren Gewalt, wenn sie Betroffene delegitimieren, Täter schützen und ihre eigene Macht sichern.

Besonders deutlich wird dieses Versagen daran, dass der Täter aktuell keine Notwendigkeit sieht, sich an den von ihm angekündigten „Rückzug zur Selbstreflexion“ zu halten. Stattdessen tritt er bereits wieder als Versammlungsleiter in Erscheinung und nimmt damit Raum ein, den Betroffene aufgrund der erlebten Gewalt so nicht nutzen können.

Die eigentliche Frage, vor der die Szene steht, lautet daher: Wird es gelingen, Strukturen zu schaffen, die Betroffene konsequent schützen – oder werden weiterhin Täter gestärkt und Betroffene zum Rückzug gedrängt?

Es braucht eine klare Haltung: Solidarität mit den Betroffenen – auch anonym, auch im Stillen – und den konsequenten Einsatz gegen Strukturen, die Gewalt reproduzieren, statt sie zu bekämpfen. Nur so können linke Räume ihrem Anspruch von Emanzipation und Solidarität gerecht werden.