Der Auschwitz-Prozess im Haus Gallus

Redebeitrag auf der Kundgebung zum 20. Todestag von Günter Sare am 28. September 2005

Das Haus Gallus in der Frankenallee war vor etwa 40 Jahren Schauplatz eines der größten und bedeutendsten Gerichtsverfahren der Bundesrepublik gegen NS-Verbrecher.

Fast 1 ½ Jahre, von Frühjahr 1964 bis August 1965, fand hier der “1. Frankfurter Auschwitz-Prozess” statt. Es gab damals in Frankfurt keinen Gerichtssaal, der groß genug gewesen wäre für ein Verfahren mit so vielen Angeklagten. Daher fand der Prozess zunächst im Plenarsaal des Römer statt; unmittelbar nach der Fertigstellung des “Haus Gallus” im April 1964 zog das Gericht hierher um.

Angeklagt waren in diesem Prozess vor allem sogenannte tatnahe Täter, also keine Schreibtischtäter, sondern diejenigen, die im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau unmittelbar Hand angelegt hatten. Von den 22 Angeklagten waren 21 Angehörige der Lager-SS, einer ein ehemaliger Funktionshäftling; unter den SS-Angehörigen waren 2 ehemalige Adjutanten der Lagerkommandanten, Angehörige der sog. “Politischen Abteilung”, also der Lager-Gestapo, eine Reihe von SS-Ärzten, ein SS-Apotheker, ein Schutzhaftlagerführer, SS-Sanitäter und verschiedene weitere kleinere SS-Dienstgrade. Die Angeklagten waren beschuldigt, Zehntausende von Menschen durch Vergasung, Erschießung, Phenolinjektionen, Folter ermordet, ihre Ermordung angeordnet oder dazu Beihilfe geleistet zu haben.

Dass dieser Prozess überhaupt stattfinden konnte, in einer Zeit, in der die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der deutschen Öffentlichkeit quasi nicht statt fand, in der die meisten der in den frühen Nachkriegsjahren verurteilten NS-Verbrecher bereits wieder auf freiem Fuß waren, war teils dem Zufall, teils dem persönlichen Engagement einzelner Personen zu verdanken.

Ein ehemaliger Häftling hatte im Jahr 1958 Wilhelm Boger, einen besonders berüchtigten Angehörigen der Politischen Abteilung, wiedererkannt und angezeigt. Ein Jahr später wurden dem damaligen Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Dokumente zugespielt, die ein ehemaliger Häftling zufällig im Mai 1945 in Breslau gefunden hatte. Auf diesen Dokumenten standen Namen einer Reihe von erschossenen Auschwitz-Häftlingen sowie die der SS-Angehörigen, die an ihrer Erschießungen beteiligt waren.

Die Staatsanwaltschaft Frankfurt wurde schließlich mit den Ermittlungen zum “Komplex Auschwitz” beauftragt, zu dem es bis dahin noch kein einziges Gerichtsverfahren in Deutschland gegeben hatte. Die Ermittlungen gestalteten sich aus verschiedenen Gründen sehr schwierig, u.a. weil man sich auf die Zuarbeit und Unterstützung der Polizei in diesem Fall nicht verlassen konnte. Name und v.a. Aufenthaltsort von ehemaligem SS-Personal aus Auschwitz zu ermitteln, war für die Juristen schon ein hürdenreiches Unterfangen, sehr viel komplizierter war es jedoch, ausreichend Beweismaterial zusammenzutragen, um die Täter auch anklagen zu können. Damals war über das, was in Auschwitz im Einzelnen vor sich gegangen war, in Deutschland noch kaum etwas bekannt. Der Tatort selbst, sowie viele der noch vorhandenen Dokumente aus Auschwitz befanden sich in Polen, einem Land, mit dem die BRD damals keine diplomatischen Beziehungen unterhielt. Offizielle Anfragen an die polnische Justiz wegen Unterstützung bei der Beschaffung von Beweismitteln kamen für die bundesdeutschen Behörden nicht in Frage. Dennoch sind Frankfurter Staatsanwälte 1960, halb privat, nach Polen gereist und haben dort, durch die Unterstützung der polnischen “Hauptkommission zur Untersuchung der Nazi-Verbrechen”, Zugang zu wichtigen Dokumenten bekommen.

Eine sehr wichtige Rolle bei der Vorbereitung des Prozesses spielten ehemalige Häftlinge, allen voran Hermann Langbein, ein österreichischer Auschwitz-Häftling und später Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees. Er hat u.a. Namen von ehemaligen SS-Angehörigen aus Auschwitz beigetragen, aber vor allem war er an der Beschaffung von Beweismitteln beteiligt. Seinen Kontakten und seiner Überzeugungskraft sind viele der Zeugenaussagen ehemaliger Häftlinge im Prozess zu verdanken.

Die ehemaligen Häftlinge als ZeugInnen im Auschwitzprozess

Auf den Aussagen der ehemaligen Auschwitz-Häftlinge lastete der größte Teil der Beweiserhebung vor Gericht; sie waren, wenn man solche Worte gebrauchen will, die eigentlichen Heldinnen und Helden des Verfahrens. Insgesamt wurden im 1. Auschwitz-Prozess 360 Zeugen vernommen, unter ihnen waren 211 Überlebende des Lagers und 85 ehemalige Angehörige der SS.

Die Überlebenden, die im Prozess aussagten, kamen aus vielen verschiedenen Ländern, es waren ehemalige Politische Häftlinge, Jüdinnen und Juden, Sinti, ehemalige sog. “Asoziale” und “Kriminelle”, sowjetische Kriegsgefangene usw. Viele von ihnen hatten sich mit dem Entschluss, nach Frankfurt zu reisen und dort vor einem deutschen Gericht, in Angesicht ihrer ehemaligen Peiniger, über ihre Erfahrungen in Auschwitz zu sprechen, äußerst schwer getan. Für viele war es eine Reise in ein Land, das sie nie bzw. nie mehr betreten wollten. Die Erfahrungen, die sie dann hier, in diesem Gebäude machten, waren sehr unterschiedlich. Für manche der ehemaligen Häftlinge war es eine Genugtuung, nach so vielen Jahren, in denen sich niemand für ihre Geschichte interessiert hatte, öffentlich und in Anwesenheit der Täter darüber sprechen zu können. Für andere kam die Aussage vor Gericht einer neuen Traumatisierung gleich. Sich präzise an das erinnern zu müssen, was man 20 Jahre lang versucht hat zu vergessen, verletzenden und entwürdigenden Fragen der Verteidiger ausgesetzt zu sein und dem selbstgerechten Verhalten der Angeklagten, das ging für viele der Zeugen fast über ihre Kraft. Vor allem die Zeugen aus Osteuropa waren häufig unglaublich diffamierenden Unterstellungen der Verteidiger ausgesetzt. Auch war es für die Zeugen oft schwer nachvollziehbar, dass vor Gericht nur die Aspekte ihrer Geschichte von Interesse waren, die dazu führen konnten, einen einzelnen Angeklagten einer konkreten Tat zu überführen.

Fassungslos reagierten einige Häftlingszeugen auf die Tatsache, dass sie hier auf der Straße oder in den Gängen des Haus Gallus, auf die Angeklagten trafen, von denen viele, zumindest zu Beginn des Verfahrens, nicht inhaftiert waren. Und sie mussten mit ansehen, wie junge deutsche Polizisten vor dem Gerichtsgebäude den ehemaligen SS-Hauptsturmführer Mulka ehrerbietig mit militärischem Gruß grüßten.

Nach Hunderten von Zeugenaussagen, der Verlesung unzähliger Dokumente und einer ganzen Reihe von historischen Gutachten, die über die Geschehnisse in Auschwitz, die Judenpolitik des NS, Struktur der SS etc. Auskunft geben sollten, nach den Einlassungen der Angeklagten, die fast ausnahmslos ihre Beteiligung an den Taten leugneten, und den zahlreichen Plädoyers von Anklage, Nebenklage und Verteidigung wurde im August 1965 das Urteil verkündet.

6 Angeklagte wurden wegen Mordes zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, ein weiterer erhielt wegen Mordes die Höchststrafe von 10 Jahren Jugendstrafe. Drei Angeklagte wurde mangels Beweisen freigesprochen; die restlichen erhielten als Tatgehilfen, wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord, Freiheitsstrafen zwischen 3 ½ und 14 Jahren.

Bereits im Jahr 1970 – also 5 Jahre nach Prozessende - waren von den 22 Angeklagten nur noch 7 in Haft. Das waren vor allem niedere Chargen, die sogenannten Exzesstäter, denen eigenmächtige Morde nachgewiesen werden konnten. Die Beteiligung an den Selektionen auf der Rampe, an den Vergasungen, an Massenerschießungen, an der Selektion nicht mehr arbeitsfähiger Häftlinge wurde lediglich als “Beihilfe” zum Mord gewertet, weil den Angeklagten, so das Gericht, nicht nachzuweisen war, dass sie die Taten als eigene gewollt hatten. Sie gingen aus dem Prozess als Befehlsempfänger hervor, die zwar willfährig alles taten, was ihnen befohlen wurde, die sich die Ziele der Nazis aber angeblich nicht wirklich zu eigen gemacht hatten.

Die Massenverbrechen, für die Auschwitz steht, das hunderttausendfache Morden durch Gas, Phenol, Erschießungen, Hunger, Kälte, Erschöpfung waren mit den Mitteln des deutschen Strafgesetzbuches offenbar nicht mal annähernd angemessen zu erfassen.

Die Bedeutung des Auschwitzprozesses

Die Bedeutung des – in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit intensiv verfolgten - Prozesses liegt daher auch kaum bei den letztlich ausgesprochenen Urteilen.

Bedeutsam war der Prozess vor allem deswegen, weil er – das erste Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte – erahnen ließ, was Auschwitz war. So wenig der Prozess auch zu einer angemessenen Ahndung dieser Verbrechen beitrug, so wichtig war er für die Aufklärung der Geschehnisse im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Es waren auch hier v.a. die Aussagen der Häftlingszeugen, z.T. auch die der SS-Zeugen, die der abstrakten Tatsache des hunderttausendfachen Massenmords, sofern diese überhaupt bekannt war, eine unmittelbare und konkrete Gestalt verliehen. Der Zugewinn an Wissen über die Verfolgungs- und Vernichtungspraxis der Nationalsozialisten, der aus diesem und anderen Prozessen folgte, war eine der Voraussetzungen für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem NS, die in der BRD einige Jahre später einsetzten.

Redebeitrag zum Tod Günter Sares am 28. September 1985, der Bedeutng für die antifaschistische Bewegung und den bundesweiten und internationalen Aktionen